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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Politik und Kirche.
blickender Despot das konnte.1) Die eigentliche Revolution -- le peuple
souverain
-- hat absolut gar nichts gethan als Zerstören. Doch schon
die Constituante stand unter der Herrschaft des neuen Gottes, mit dem
Frankreich die Welt beschenken sollte, des Gottes der Phrase. Man
nehme nur jene vielgenannten droits de l'homme zur Hand -- gegen
die der grosse Mirabeau vergeblich geeifert hatte, indem er zuletzt rief:
"Nennt es wenigstens nicht Rechte; sagt einfach: im allgemeinen
Interesse ist bestimmt worden ....." -- die aber noch heute bei
ernsten französischen Politikern als die Morgenröte der Freiheit gelten.
Im Eingang steht: l'oubli ou le mepris des droits de l'homme sont
l'unique cause des malheurs publics.
Man kann unmöglich ober-
flächlicher denken und falscher urteilen. Nicht dass die Franzosen die
Menschenrechte, sondern dass sie die Menschenpflichten vergassen
oder verachteten, hatte das öffentliche Unglück herbeigeführt. Das
erhellt aus meiner obigen Skizze zur Genüge und wird im weiteren
Verlauf der Revolution auf Schritt und Tritt bestätigt. Diese feierliche
Erklärung stützt sich also gleich anfangs auf eine Unwahrheit. Man
kennt das Wort, das Graf Sieyes in die Versammlung hineinwarf:
"Freiheit wollt ihr besitzen, und ihr versteht es noch nicht einmal,
gerecht zu sein!" Das Weitere jener Erklärung enthält dann zum
Teil Sachen, die Lafayette aus der Unabhängigkeitserklärung der in
Amerika angesiedelten Angelsachsen abgeschrieben hatte, zum Teil
Rechtsprinzipien, betreffend den Schutz des Individuums, welche die
Engländer schon 600 Jahre früher in die That umgesetzt hatten. Man
begreift, dass ein so gescheiter Mann wie Adolphe Thiers in seiner
Geschichte der Revolution möglichst schnell über diese Erklärung der
Menschheitsrechte hinwegzugleiten sucht, indem er meint, es sei "nur
schade um die Zeit, die man auf solche pseudophilosophische Gemein-
plätze verschwendet habe".2) Die Sache darf aber nicht so leicht ge-

1) Wenn man von Napoleon's staatsmännischem Genie spricht, so vergesse
man doch nicht (unter vielem andern), dass er es war, der die gallikanische Kirche
endgültig zertrümmerte, somit die ungeheuere Mehrzahl der Franzosen rettungslos
Rom ausliefernd und jede Möglichkeit einer echten Nationalkirche zerstörend, und
dass er es war, der die Juden endgültig inthronisierte. Dieser Mann -- baar jeg-
liches Verständnisses für geschichtliche Wahrheit und Notwendigkeit, die Ver-
körperung der frevelhaften Willkür -- ist ein Zermalmer, nicht ein Schöpfer, im
besten Falle ein Kodificierer, nicht ein Erfinder; er ist ein Sendling des Chaos,
die rechte Ergänzung des Ignatius von Loyola, eine neue Personifikation des Anti-
germanentums.
2) Kap. 3.

Politik und Kirche.
blickender Despot das konnte.1) Die eigentliche Revolution — le peuple
souverain
— hat absolut gar nichts gethan als Zerstören. Doch schon
die Constituante stand unter der Herrschaft des neuen Gottes, mit dem
Frankreich die Welt beschenken sollte, des Gottes der Phrase. Man
nehme nur jene vielgenannten droits de l’homme zur Hand — gegen
die der grosse Mirabeau vergeblich geeifert hatte, indem er zuletzt rief:
»Nennt es wenigstens nicht Rechte; sagt einfach: im allgemeinen
Interesse ist bestimmt worden .....« — die aber noch heute bei
ernsten französischen Politikern als die Morgenröte der Freiheit gelten.
Im Eingang steht: l’oubli ou le mépris des droits de l’homme sont
l’unique cause des malheurs publics.
Man kann unmöglich ober-
flächlicher denken und falscher urteilen. Nicht dass die Franzosen die
Menschenrechte, sondern dass sie die Menschenpflichten vergassen
oder verachteten, hatte das öffentliche Unglück herbeigeführt. Das
erhellt aus meiner obigen Skizze zur Genüge und wird im weiteren
Verlauf der Revolution auf Schritt und Tritt bestätigt. Diese feierliche
Erklärung stützt sich also gleich anfangs auf eine Unwahrheit. Man
kennt das Wort, das Graf Sieyès in die Versammlung hineinwarf:
»Freiheit wollt ihr besitzen, und ihr versteht es noch nicht einmal,
gerecht zu sein!« Das Weitere jener Erklärung enthält dann zum
Teil Sachen, die Lafayette aus der Unabhängigkeitserklärung der in
Amerika angesiedelten Angelsachsen abgeschrieben hatte, zum Teil
Rechtsprinzipien, betreffend den Schutz des Individuums, welche die
Engländer schon 600 Jahre früher in die That umgesetzt hatten. Man
begreift, dass ein so gescheiter Mann wie Adolphe Thiers in seiner
Geschichte der Revolution möglichst schnell über diese Erklärung der
Menschheitsrechte hinwegzugleiten sucht, indem er meint, es sei »nur
schade um die Zeit, die man auf solche pseudophilosophische Gemein-
plätze verschwendet habe«.2) Die Sache darf aber nicht so leicht ge-

1) Wenn man von Napoleon’s staatsmännischem Genie spricht, so vergesse
man doch nicht (unter vielem andern), dass er es war, der die gallikanische Kirche
endgültig zertrümmerte, somit die ungeheuere Mehrzahl der Franzosen rettungslos
Rom ausliefernd und jede Möglichkeit einer echten Nationalkirche zerstörend, und
dass er es war, der die Juden endgültig inthronisierte. Dieser Mann — baar jeg-
liches Verständnisses für geschichtliche Wahrheit und Notwendigkeit, die Ver-
körperung der frevelhaften Willkür — ist ein Zermalmer, nicht ein Schöpfer, im
besten Falle ein Kodificierer, nicht ein Erfinder; er ist ein Sendling des Chaos,
die rechte Ergänzung des Ignatius von Loyola, eine neue Personifikation des Anti-
germanentums.
2) Kap. 3.
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[853/0332] Politik und Kirche. blickender Despot das konnte. 1) Die eigentliche Revolution — le peuple souverain — hat absolut gar nichts gethan als Zerstören. Doch schon die Constituante stand unter der Herrschaft des neuen Gottes, mit dem Frankreich die Welt beschenken sollte, des Gottes der Phrase. Man nehme nur jene vielgenannten droits de l’homme zur Hand — gegen die der grosse Mirabeau vergeblich geeifert hatte, indem er zuletzt rief: »Nennt es wenigstens nicht Rechte; sagt einfach: im allgemeinen Interesse ist bestimmt worden .....« — die aber noch heute bei ernsten französischen Politikern als die Morgenröte der Freiheit gelten. Im Eingang steht: l’oubli ou le mépris des droits de l’homme sont l’unique cause des malheurs publics. Man kann unmöglich ober- flächlicher denken und falscher urteilen. Nicht dass die Franzosen die Menschenrechte, sondern dass sie die Menschenpflichten vergassen oder verachteten, hatte das öffentliche Unglück herbeigeführt. Das erhellt aus meiner obigen Skizze zur Genüge und wird im weiteren Verlauf der Revolution auf Schritt und Tritt bestätigt. Diese feierliche Erklärung stützt sich also gleich anfangs auf eine Unwahrheit. Man kennt das Wort, das Graf Sieyès in die Versammlung hineinwarf: »Freiheit wollt ihr besitzen, und ihr versteht es noch nicht einmal, gerecht zu sein!« Das Weitere jener Erklärung enthält dann zum Teil Sachen, die Lafayette aus der Unabhängigkeitserklärung der in Amerika angesiedelten Angelsachsen abgeschrieben hatte, zum Teil Rechtsprinzipien, betreffend den Schutz des Individuums, welche die Engländer schon 600 Jahre früher in die That umgesetzt hatten. Man begreift, dass ein so gescheiter Mann wie Adolphe Thiers in seiner Geschichte der Revolution möglichst schnell über diese Erklärung der Menschheitsrechte hinwegzugleiten sucht, indem er meint, es sei »nur schade um die Zeit, die man auf solche pseudophilosophische Gemein- plätze verschwendet habe«. 2) Die Sache darf aber nicht so leicht ge- 1) Wenn man von Napoleon’s staatsmännischem Genie spricht, so vergesse man doch nicht (unter vielem andern), dass er es war, der die gallikanische Kirche endgültig zertrümmerte, somit die ungeheuere Mehrzahl der Franzosen rettungslos Rom ausliefernd und jede Möglichkeit einer echten Nationalkirche zerstörend, und dass er es war, der die Juden endgültig inthronisierte. Dieser Mann — baar jeg- liches Verständnisses für geschichtliche Wahrheit und Notwendigkeit, die Ver- körperung der frevelhaften Willkür — ist ein Zermalmer, nicht ein Schöpfer, im besten Falle ein Kodificierer, nicht ein Erfinder; er ist ein Sendling des Chaos, die rechte Ergänzung des Ignatius von Loyola, eine neue Personifikation des Anti- germanentums. 2) Kap. 3.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 853. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/332>, abgerufen am 05.05.2024.