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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Erkenntnis unanfechtbar. Auch Kant musste bezeugen, dass jede
philosophische Ergründung der mathematisch-mechanischen Körper-
lehre "sich mit dem Leeren und darum Unbegreiflichen endigt."1)
Die exakte Forschung hat uns also nicht allein in empirischer Be-
ziehung den dankbar anzuerkennenden Dienst geleistet, dass wir hin-
fürder zwischen dem was wir kennen und dem was wir nicht kennen,
genau zu unterscheiden gelernt haben, sondern ihre philosophische
Vertiefung hat eine scharfe Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen
gezogen: die gesamte Körperwelt kann nicht "gewusst" werden.

Nebenbei, und um ähnliche Missverständnisse beim Leser zuIdealismus
und
Materialismus.

verhüten, sei kurz auf zwei Verirrungen hingewiesen, die aus diesem
ersten grossen Ergebnis der philosophischen Naturforschung der
Descartes und Locke sich entwickelten: den Idealismus und den
Materialismus. Die Körperwelt, weil sie nicht "gewusst" werden kann,
mit Berkeley (1685--1753) ganz wegzuleugnen, ist eine geistreiche,
doch wertlose Spielerei; denn dies heisst einfach die Behauptung auf-
stellen: weil ich die Sinnenwelt vermittelst meiner Sinne wahrnehme
und keine andere Gewähr für ihr Dasein besitze, darum existiert sie
nicht, weil ich die Rose nur vermittelst meiner Nase rieche, darum
giebt es zwar eine Nase (wenigstens eine ideale) aber noch keine Rose.
Ebenso wenig stichhaltig war die andere Folgerung, welche allzusehr
an der Oberfläche klebende Denker zogen, und welche in Lamettrie
(1709--51) und Condillac (1715--80) ihren klarsten Ausdruck fand:
weil meine Sinne nur Sinnliches wahrnehmen, darum giebt es nur
Sinnliches, weil mein Verstand ein Mechanismus ist, welcher das sinn-
lich Wahrgenommene nur "maschinell" aufzufassen vermag, darum ist
Mechanismus erschöpfende Weltweisheit. Beides -- Idealismus und
Materialismus -- sind offenbare Trugschlüsse, Schlüsse, welche sich
auf Descartes und Locke stützen und dennoch den klarsten Ergebnissen
ihrer Arbeiten widersprechen. Ausserdem lassen diese beiden Ansichten
einen wesentlichen Bestandteil der Weltanschauung der Descartes und
Locke gänzlich unberücksichtigt; denn Descartes hatte nicht die ganze
Welt, sondern nur die Welt der Erscheinungen mechanisch gedeutet,
Locke hatte nicht die ganze Welt, sondern nur die Seele analysiert,
indem er meinte, eine Wissenschaft der Körper könne es nicht geben.
Solchen Missverständnissen waren die grossen Genies jederzeit ausgesetzt;
lassen wir sie also bei Seite, und sehen wir zu, wie unsere neue Welt-

1) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, letzter Absatz.

Weltanschauung und Religion.
Erkenntnis unanfechtbar. Auch Kant musste bezeugen, dass jede
philosophische Ergründung der mathematisch-mechanischen Körper-
lehre »sich mit dem Leeren und darum Unbegreiflichen endigt.«1)
Die exakte Forschung hat uns also nicht allein in empirischer Be-
ziehung den dankbar anzuerkennenden Dienst geleistet, dass wir hin-
fürder zwischen dem was wir kennen und dem was wir nicht kennen,
genau zu unterscheiden gelernt haben, sondern ihre philosophische
Vertiefung hat eine scharfe Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen
gezogen: die gesamte Körperwelt kann nicht »gewusst« werden.

Nebenbei, und um ähnliche Missverständnisse beim Leser zuIdealismus
und
Materialismus.

verhüten, sei kurz auf zwei Verirrungen hingewiesen, die aus diesem
ersten grossen Ergebnis der philosophischen Naturforschung der
Descartes und Locke sich entwickelten: den Idealismus und den
Materialismus. Die Körperwelt, weil sie nicht »gewusst« werden kann,
mit Berkeley (1685—1753) ganz wegzuleugnen, ist eine geistreiche,
doch wertlose Spielerei; denn dies heisst einfach die Behauptung auf-
stellen: weil ich die Sinnenwelt vermittelst meiner Sinne wahrnehme
und keine andere Gewähr für ihr Dasein besitze, darum existiert sie
nicht, weil ich die Rose nur vermittelst meiner Nase rieche, darum
giebt es zwar eine Nase (wenigstens eine ideale) aber noch keine Rose.
Ebenso wenig stichhaltig war die andere Folgerung, welche allzusehr
an der Oberfläche klebende Denker zogen, und welche in Lamettrie
(1709—51) und Condillac (1715—80) ihren klarsten Ausdruck fand:
weil meine Sinne nur Sinnliches wahrnehmen, darum giebt es nur
Sinnliches, weil mein Verstand ein Mechanismus ist, welcher das sinn-
lich Wahrgenommene nur »maschinell« aufzufassen vermag, darum ist
Mechanismus erschöpfende Weltweisheit. Beides — Idealismus und
Materialismus — sind offenbare Trugschlüsse, Schlüsse, welche sich
auf Descartes und Locke stützen und dennoch den klarsten Ergebnissen
ihrer Arbeiten widersprechen. Ausserdem lassen diese beiden Ansichten
einen wesentlichen Bestandteil der Weltanschauung der Descartes und
Locke gänzlich unberücksichtigt; denn Descartes hatte nicht die ganze
Welt, sondern nur die Welt der Erscheinungen mechanisch gedeutet,
Locke hatte nicht die ganze Welt, sondern nur die Seele analysiert,
indem er meinte, eine Wissenschaft der Körper könne es nicht geben.
Solchen Missverständnissen waren die grossen Genies jederzeit ausgesetzt;
lassen wir sie also bei Seite, und sehen wir zu, wie unsere neue Welt-

1) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, letzter Absatz.
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[913/0392] Weltanschauung und Religion. Erkenntnis unanfechtbar. Auch Kant musste bezeugen, dass jede philosophische Ergründung der mathematisch-mechanischen Körper- lehre »sich mit dem Leeren und darum Unbegreiflichen endigt.« 1) Die exakte Forschung hat uns also nicht allein in empirischer Be- ziehung den dankbar anzuerkennenden Dienst geleistet, dass wir hin- fürder zwischen dem was wir kennen und dem was wir nicht kennen, genau zu unterscheiden gelernt haben, sondern ihre philosophische Vertiefung hat eine scharfe Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen gezogen: die gesamte Körperwelt kann nicht »gewusst« werden. Nebenbei, und um ähnliche Missverständnisse beim Leser zu verhüten, sei kurz auf zwei Verirrungen hingewiesen, die aus diesem ersten grossen Ergebnis der philosophischen Naturforschung der Descartes und Locke sich entwickelten: den Idealismus und den Materialismus. Die Körperwelt, weil sie nicht »gewusst« werden kann, mit Berkeley (1685—1753) ganz wegzuleugnen, ist eine geistreiche, doch wertlose Spielerei; denn dies heisst einfach die Behauptung auf- stellen: weil ich die Sinnenwelt vermittelst meiner Sinne wahrnehme und keine andere Gewähr für ihr Dasein besitze, darum existiert sie nicht, weil ich die Rose nur vermittelst meiner Nase rieche, darum giebt es zwar eine Nase (wenigstens eine ideale) aber noch keine Rose. Ebenso wenig stichhaltig war die andere Folgerung, welche allzusehr an der Oberfläche klebende Denker zogen, und welche in Lamettrie (1709—51) und Condillac (1715—80) ihren klarsten Ausdruck fand: weil meine Sinne nur Sinnliches wahrnehmen, darum giebt es nur Sinnliches, weil mein Verstand ein Mechanismus ist, welcher das sinn- lich Wahrgenommene nur »maschinell« aufzufassen vermag, darum ist Mechanismus erschöpfende Weltweisheit. Beides — Idealismus und Materialismus — sind offenbare Trugschlüsse, Schlüsse, welche sich auf Descartes und Locke stützen und dennoch den klarsten Ergebnissen ihrer Arbeiten widersprechen. Ausserdem lassen diese beiden Ansichten einen wesentlichen Bestandteil der Weltanschauung der Descartes und Locke gänzlich unberücksichtigt; denn Descartes hatte nicht die ganze Welt, sondern nur die Welt der Erscheinungen mechanisch gedeutet, Locke hatte nicht die ganze Welt, sondern nur die Seele analysiert, indem er meinte, eine Wissenschaft der Körper könne es nicht geben. Solchen Missverständnissen waren die grossen Genies jederzeit ausgesetzt; lassen wir sie also bei Seite, und sehen wir zu, wie unsere neue Welt- Idealismus und Materialismus. 1) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, letzter Absatz.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 913. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/392>, abgerufen am 29.04.2024.