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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
darauf: "für unseren jetzigen Gegenstand (er handelt von der Wahrheit
im Allgemeinen
) ist diese Erwägung ohne grosse Bedeutung; sie ge-
nannt zu haben, genügt."1) Auch dort, wo metaphysische Erwägungen
nahegelegen hätten, streift Locke dicht heran an eine kritische Be-
handlung, ohne aber sich darauf einzulassen. So meint er z. B.
von dem Begriff des Raumes: "ich werde Euch sagen, was Raum ist,
wenn ihr mir gesagt haben werdet, was Ausdehnung ist", und mehr
als einmal behauptet er dann, Ausdehnung sei etwas "schlechthin un-
begreifliches".2) Doch wagt er es nicht, tiefer einzudringen; im Gegen-
teil, dieses schlechthin Undenkbare -- das Ausgedehnte -- wird später
bei ihm zum Träger des Denkens! Durch dieses eine Beispiel glaube
ich deutlich gemacht zu haben, was diesen bahnbrechenden Denkern
noch fehlte: die volle philosophische Unbefangenheit. Sie standen
doch noch ausserhalb der Natur, wie die Theologen, und meinten,
sie könnten sie von dort aus betrachten und begreifen. Sie verstanden
noch nicht:

Natur in sich, sich in Natur zu hegen.

Hume machte den entscheidenden Schritt hierzu; er beseitigte diese
künstliche Scheidung des Selbst in zwei Teile, von denen man vor-
giebt, den einen ganz erklären zu wollen, während der andere völlig
unberücksichtigt, für Engel und Verstorbene aufgehoben bleibt. Hume
stellte sich auf den Standpunkt eines konsequent die Natur -- in sich
und ausser sich -- Befragenden; er deckte als Erster das metaphysische
Problem "Wie ist Erfahrung möglich?" auf, holte die kritischen Ein-
würfe alle nacheinander herbei, und gelangte zu dem paradoxen
Schluss, der sich in folgenden Worten zusammenfassen lässt: Er-
fahrung ist unmöglich. Er hatte in einem gewissen Sinne vollkommen
Recht, und sein glänzendes Paradoxon ist wohl doch nur als Ironie
zu fassen. Blieb man nämlich auf dem Standpunkt eines Descartes
und Locke stehen und schob dennoch ihren deus ex machina bei
Seite, dann stürzte sofort das Gebäude ein. Und zwar stürzte es um
so gründlicher zusammen, als ihre Befangenheit nicht allein darin
bestanden hatte, einen grossen und wichtigsten Teil ihres Erfahrungs-
materials unbenutzt liegen zu lassen, sondern -- ich bitte dies ganz
besonders zu beachten -- auch darin, dass sie eine lückenlose, logische
Erklärung des übrigen Teils ohne Weiteres als möglich voraussetzten.

1) Essay, book 4., ch. 4, § 9 fg.
2) l. c., book. 2., ch. 13, § 15, ch. 23 § 22 u. 29.

Die Entstehung einer neuen Welt.
darauf: »für unseren jetzigen Gegenstand (er handelt von der Wahrheit
im Allgemeinen
) ist diese Erwägung ohne grosse Bedeutung; sie ge-
nannt zu haben, genügt.«1) Auch dort, wo metaphysische Erwägungen
nahegelegen hätten, streift Locke dicht heran an eine kritische Be-
handlung, ohne aber sich darauf einzulassen. So meint er z. B.
von dem Begriff des Raumes: »ich werde Euch sagen, was Raum ist,
wenn ihr mir gesagt haben werdet, was Ausdehnung ist«, und mehr
als einmal behauptet er dann, Ausdehnung sei etwas »schlechthin un-
begreifliches«.2) Doch wagt er es nicht, tiefer einzudringen; im Gegen-
teil, dieses schlechthin Undenkbare — das Ausgedehnte — wird später
bei ihm zum Träger des Denkens! Durch dieses eine Beispiel glaube
ich deutlich gemacht zu haben, was diesen bahnbrechenden Denkern
noch fehlte: die volle philosophische Unbefangenheit. Sie standen
doch noch ausserhalb der Natur, wie die Theologen, und meinten,
sie könnten sie von dort aus betrachten und begreifen. Sie verstanden
noch nicht:

Natur in sich, sich in Natur zu hegen.

Hume machte den entscheidenden Schritt hierzu; er beseitigte diese
künstliche Scheidung des Selbst in zwei Teile, von denen man vor-
giebt, den einen ganz erklären zu wollen, während der andere völlig
unberücksichtigt, für Engel und Verstorbene aufgehoben bleibt. Hume
stellte sich auf den Standpunkt eines konsequent die Natur — in sich
und ausser sich — Befragenden; er deckte als Erster das metaphysische
Problem »Wie ist Erfahrung möglich?« auf, holte die kritischen Ein-
würfe alle nacheinander herbei, und gelangte zu dem paradoxen
Schluss, der sich in folgenden Worten zusammenfassen lässt: Er-
fahrung ist unmöglich. Er hatte in einem gewissen Sinne vollkommen
Recht, und sein glänzendes Paradoxon ist wohl doch nur als Ironie
zu fassen. Blieb man nämlich auf dem Standpunkt eines Descartes
und Locke stehen und schob dennoch ihren deus ex machina bei
Seite, dann stürzte sofort das Gebäude ein. Und zwar stürzte es um
so gründlicher zusammen, als ihre Befangenheit nicht allein darin
bestanden hatte, einen grossen und wichtigsten Teil ihres Erfahrungs-
materials unbenutzt liegen zu lassen, sondern — ich bitte dies ganz
besonders zu beachten — auch darin, dass sie eine lückenlose, logische
Erklärung des übrigen Teils ohne Weiteres als möglich voraussetzten.

1) Essay, book 4., ch. 4, § 9 fg.
2) l. c., book. 2., ch. 13, § 15, ch. 23 § 22 u. 29.
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[922/0401] Die Entstehung einer neuen Welt. darauf: »für unseren jetzigen Gegenstand (er handelt von der Wahrheit im Allgemeinen) ist diese Erwägung ohne grosse Bedeutung; sie ge- nannt zu haben, genügt.« 1) Auch dort, wo metaphysische Erwägungen nahegelegen hätten, streift Locke dicht heran an eine kritische Be- handlung, ohne aber sich darauf einzulassen. So meint er z. B. von dem Begriff des Raumes: »ich werde Euch sagen, was Raum ist, wenn ihr mir gesagt haben werdet, was Ausdehnung ist«, und mehr als einmal behauptet er dann, Ausdehnung sei etwas »schlechthin un- begreifliches«. 2) Doch wagt er es nicht, tiefer einzudringen; im Gegen- teil, dieses schlechthin Undenkbare — das Ausgedehnte — wird später bei ihm zum Träger des Denkens! Durch dieses eine Beispiel glaube ich deutlich gemacht zu haben, was diesen bahnbrechenden Denkern noch fehlte: die volle philosophische Unbefangenheit. Sie standen doch noch ausserhalb der Natur, wie die Theologen, und meinten, sie könnten sie von dort aus betrachten und begreifen. Sie verstanden noch nicht: Natur in sich, sich in Natur zu hegen. Hume machte den entscheidenden Schritt hierzu; er beseitigte diese künstliche Scheidung des Selbst in zwei Teile, von denen man vor- giebt, den einen ganz erklären zu wollen, während der andere völlig unberücksichtigt, für Engel und Verstorbene aufgehoben bleibt. Hume stellte sich auf den Standpunkt eines konsequent die Natur — in sich und ausser sich — Befragenden; er deckte als Erster das metaphysische Problem »Wie ist Erfahrung möglich?« auf, holte die kritischen Ein- würfe alle nacheinander herbei, und gelangte zu dem paradoxen Schluss, der sich in folgenden Worten zusammenfassen lässt: Er- fahrung ist unmöglich. Er hatte in einem gewissen Sinne vollkommen Recht, und sein glänzendes Paradoxon ist wohl doch nur als Ironie zu fassen. Blieb man nämlich auf dem Standpunkt eines Descartes und Locke stehen und schob dennoch ihren deus ex machina bei Seite, dann stürzte sofort das Gebäude ein. Und zwar stürzte es um so gründlicher zusammen, als ihre Befangenheit nicht allein darin bestanden hatte, einen grossen und wichtigsten Teil ihres Erfahrungs- materials unbenutzt liegen zu lassen, sondern — ich bitte dies ganz besonders zu beachten — auch darin, dass sie eine lückenlose, logische Erklärung des übrigen Teils ohne Weiteres als möglich voraussetzten. 1) Essay, book 4., ch. 4, § 9 fg. 2) l. c., book. 2., ch. 13, § 15, ch. 23 § 22 u. 29.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 922. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/401>, abgerufen am 27.04.2024.