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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Topf werfen könnte; wogegen wir auf jedem Gebiet des Lebens
sehen, dass selbst unsere nächsten Verwandten -- die Hellenen, die
Römer, die Indier, die Eranier -- jeder einen ganz individuellen Ent-
wickelungsgang durchmacht. Ausserdem stimmt das angeblich beweis-
kräftige Beispiel keineswegs. Ja! hätten unsere Kunsthistoriker die
These durchführen wollen, die ich selber im ersten Kapitel dieses
Buches zu skizzieren versucht habe, inwiefern nämlich schöpferische
Kunst -- die Kunst Homer's -- die Grundlage der gesamten
hellenischen Kultur abgegeben hat, inwiefern wir durch sie erst "ins
Tageslicht des Lebens eingetreten sind", wie sehr dies das besondere
Kennzeichen der einen einzigen hellenischen Geschichte ist: dann wäre
ihre Stellung unanfechtbar, und wir müssten ihnen Dank wissen;
doch davon ist keine Rede. Poesie und Musik gehören bei Schultz
ebensowenig wie bei irgend einem seiner Kollegen zur Kunst; mit
keinem Sterbenswörtchen wird ihrer auch nur gedacht; "das ganze
weite Gebiet handwerklicher Produktion" (S. 14) wird als zum Gegen-
stand gehörig betrachtet, also lediglich die bildende Kunst. Und da ist
denn die aufgestellte Behauptung nicht allein gewagt, sondern nach-
weisbar falsch. Denn, erstens ist die Beschränkung der "heroischen
Zeit" der bildenden Kunst auf Phidias kaum mehr als eine bequeme
Phrase. Was besitzen wir denn von ihm, um ein derartiges Urteil
darauf zu gründen? Erkennt nicht die Forschung von Jahr zu Jahr
mehr die Vielseitigkeit und die Bedeutung des Praxiteles?1) und geniesst
Apelles nicht den Ruf eines unvergleichlichen Malers? Beide sind Zeit-
genossen des Aristoteles. Und ist man wirklich berechtigt, die herrlichen
Skulpturen aus Pergamon einem vorgefassten System zuliebe als "Ware
zweiter Güte" gering zu schätzen? Pergamon aber wurde 50 Jahre
nach dem Tode des Aristoteles erst gegründet. Ich selber bin in
diesem Buche gezwungen, immer nur wenige, hervorragendste und all-
bekannte Namen zu nennen; auch habe ich den stärksten Nachdruck
auf die Kunst als "Kunst des Genies" gelegt; doch ist es lächerlich,
meine ich, wenn man in Fachbüchern einer derartigen Simplifikation
Raum giebt; das Genie gleicht doch nicht einem Orden, den man
einem bestimmten einzelnen Menschen auf die Brust hängt, sondern
es schlummert, und schlummert nicht bloss, sondern wirkt auch in
Hunderten und Tausenden, ehe der Einzelne sich hervorthun kann.

1) Man lese z. B. die Berichte über die neuerlichen Funde in Mantinea mit
den Musenreliefs des Praxiteles.

Kunst.
Topf werfen könnte; wogegen wir auf jedem Gebiet des Lebens
sehen, dass selbst unsere nächsten Verwandten — die Hellenen, die
Römer, die Indier, die Eranier — jeder einen ganz individuellen Ent-
wickelungsgang durchmacht. Ausserdem stimmt das angeblich beweis-
kräftige Beispiel keineswegs. Ja! hätten unsere Kunsthistoriker die
These durchführen wollen, die ich selber im ersten Kapitel dieses
Buches zu skizzieren versucht habe, inwiefern nämlich schöpferische
Kunst — die Kunst Homer’s — die Grundlage der gesamten
hellenischen Kultur abgegeben hat, inwiefern wir durch sie erst »ins
Tageslicht des Lebens eingetreten sind«, wie sehr dies das besondere
Kennzeichen der einen einzigen hellenischen Geschichte ist: dann wäre
ihre Stellung unanfechtbar, und wir müssten ihnen Dank wissen;
doch davon ist keine Rede. Poesie und Musik gehören bei Schultz
ebensowenig wie bei irgend einem seiner Kollegen zur Kunst; mit
keinem Sterbenswörtchen wird ihrer auch nur gedacht; »das ganze
weite Gebiet handwerklicher Produktion« (S. 14) wird als zum Gegen-
stand gehörig betrachtet, also lediglich die bildende Kunst. Und da ist
denn die aufgestellte Behauptung nicht allein gewagt, sondern nach-
weisbar falsch. Denn, erstens ist die Beschränkung der »heroischen
Zeit« der bildenden Kunst auf Phidias kaum mehr als eine bequeme
Phrase. Was besitzen wir denn von ihm, um ein derartiges Urteil
darauf zu gründen? Erkennt nicht die Forschung von Jahr zu Jahr
mehr die Vielseitigkeit und die Bedeutung des Praxiteles?1) und geniesst
Apelles nicht den Ruf eines unvergleichlichen Malers? Beide sind Zeit-
genossen des Aristoteles. Und ist man wirklich berechtigt, die herrlichen
Skulpturen aus Pergamon einem vorgefassten System zuliebe als »Ware
zweiter Güte« gering zu schätzen? Pergamon aber wurde 50 Jahre
nach dem Tode des Aristoteles erst gegründet. Ich selber bin in
diesem Buche gezwungen, immer nur wenige, hervorragendste und all-
bekannte Namen zu nennen; auch habe ich den stärksten Nachdruck
auf die Kunst als »Kunst des Genies« gelegt; doch ist es lächerlich,
meine ich, wenn man in Fachbüchern einer derartigen Simplifikation
Raum giebt; das Genie gleicht doch nicht einem Orden, den man
einem bestimmten einzelnen Menschen auf die Brust hängt, sondern
es schlummert, und schlummert nicht bloss, sondern wirkt auch in
Hunderten und Tausenden, ehe der Einzelne sich hervorthun kann.

1) Man lese z. B. die Berichte über die neuerlichen Funde in Mantinea mit
den Musenreliefs des Praxiteles.
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[963/0442] Kunst. Topf werfen könnte; wogegen wir auf jedem Gebiet des Lebens sehen, dass selbst unsere nächsten Verwandten — die Hellenen, die Römer, die Indier, die Eranier — jeder einen ganz individuellen Ent- wickelungsgang durchmacht. Ausserdem stimmt das angeblich beweis- kräftige Beispiel keineswegs. Ja! hätten unsere Kunsthistoriker die These durchführen wollen, die ich selber im ersten Kapitel dieses Buches zu skizzieren versucht habe, inwiefern nämlich schöpferische Kunst — die Kunst Homer’s — die Grundlage der gesamten hellenischen Kultur abgegeben hat, inwiefern wir durch sie erst »ins Tageslicht des Lebens eingetreten sind«, wie sehr dies das besondere Kennzeichen der einen einzigen hellenischen Geschichte ist: dann wäre ihre Stellung unanfechtbar, und wir müssten ihnen Dank wissen; doch davon ist keine Rede. Poesie und Musik gehören bei Schultz ebensowenig wie bei irgend einem seiner Kollegen zur Kunst; mit keinem Sterbenswörtchen wird ihrer auch nur gedacht; »das ganze weite Gebiet handwerklicher Produktion« (S. 14) wird als zum Gegen- stand gehörig betrachtet, also lediglich die bildende Kunst. Und da ist denn die aufgestellte Behauptung nicht allein gewagt, sondern nach- weisbar falsch. Denn, erstens ist die Beschränkung der »heroischen Zeit« der bildenden Kunst auf Phidias kaum mehr als eine bequeme Phrase. Was besitzen wir denn von ihm, um ein derartiges Urteil darauf zu gründen? Erkennt nicht die Forschung von Jahr zu Jahr mehr die Vielseitigkeit und die Bedeutung des Praxiteles? 1) und geniesst Apelles nicht den Ruf eines unvergleichlichen Malers? Beide sind Zeit- genossen des Aristoteles. Und ist man wirklich berechtigt, die herrlichen Skulpturen aus Pergamon einem vorgefassten System zuliebe als »Ware zweiter Güte« gering zu schätzen? Pergamon aber wurde 50 Jahre nach dem Tode des Aristoteles erst gegründet. Ich selber bin in diesem Buche gezwungen, immer nur wenige, hervorragendste und all- bekannte Namen zu nennen; auch habe ich den stärksten Nachdruck auf die Kunst als »Kunst des Genies« gelegt; doch ist es lächerlich, meine ich, wenn man in Fachbüchern einer derartigen Simplifikation Raum giebt; das Genie gleicht doch nicht einem Orden, den man einem bestimmten einzelnen Menschen auf die Brust hängt, sondern es schlummert, und schlummert nicht bloss, sondern wirkt auch in Hunderten und Tausenden, ehe der Einzelne sich hervorthun kann. 1) Man lese z. B. die Berichte über die neuerlichen Funde in Mantinea mit den Musenreliefs des Praxiteles.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 963. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/442>, abgerufen am 27.04.2024.