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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
auf Leonardo hinzuweisen, begnüge mich also hier daran zu erinnern,
dass er Mathematiker, Mechaniker, Ingenieur, Astronom, Geolog,
Anatom, Physiolog war. Hat auch die kurze Spanne eines Menschen-
lebens nicht genügt, damit er hier überall, wie auf dem Gebiete der
Kunst, Unsterbliches leiste, die vielen richtigen Ahnungen des erst
viel später Entdeckten besitzen um so mehr Wert, als sie nicht luftige
Intuitionen sind, sondern das Ergebnis der Beobachtung und einer streng
wissenschaftlichen Denkmethode. Das grosse mittlere Prinzip unserer
gesamten Naturwissenschaft: Mathematik und Experiment, hat er zuerst
klar aufgestellt. "Alles wissen ist eitel", sagt er, "welches nicht auf
Erfahrungsthatsachen fusst und Schritt für Schritt bis zum wissen-
schaftlich angestellten Versuch verfolgt werden kann."1) Ob Herr
Schultz Leonardo einen "Gelehrten" nennen würde, weiss ich aller-
dings nicht; jedoch zeigt die Geschichte, dass es auch in den Wissen-
schaften etwas grösseres giebt als Gelehrsamkeit, nämlich Genie; und
Leonardo ist ohne Frage eines der hervorragendsten wissenschaftlichen
Genies aller Zeiten. -- Doch sehen wir weiter, ob es nicht einen
ausschliesslich "wissenschaftlichen" Zeitgenossen Michelangelo's und
Raffael's giebt, würdig ihnen "annähernd an die Seite gestellt zu
werden." Nichts ist schwerer, als für vergangene wissenschaftliche
Grössen anerkennendes Verständnis zu wecken, und wollte ich als
Beispiele von Naturforschern, deren Leben "innerhalb" des Lebens
Michelangelo's fällt, auf Vesalius, den unsterblichen Begründer der
menschlichen Anatomie, auf Servet, den Vorentdecker des Blutum-
laufes, auf Konrad Gessner, jenes erstaunlich vielseitige Muster aller
späteren "Naturalisten", und noch auf Andere hinweisen, so müsste
ich zu jedem Namen einen Kommentar geben, und trotzdem würde
ein ganzes Leben erfolgreicher Arbeit in der dunklen Vorstellung eines
Laien immer noch wenig wiegen im Vergleich zu einem einzigen aus
Anschauung ihm bekannten Kunstwerke. Doch zum Glück brauchen
wir in diesem Falle nicht lange zu suchen, um einen Namen zu
finden, dessen Glanz selbst bis in das unwissenschaftlichste Hirn ge-
drungen ist. Denn bei aller grossen Verehrung für jene unsterblichen

-- worauf man mit der Frage erwidern möchte, wo er denn überhaupt ausset
bei uns Germanen auf eine wahre "Blüte der Wissenschaft" hinweisen könne?
Er würde sehr verlegen um eine Antwort sein. Und bei uns -- das könnte er
nicht leugnen -- geht die Kunst von Giotto bis Goethe ihren Gang parallel mit
der Wissenschaft von Roger Bacon bis Cuvier.
1) Libro di pittura, § 33 (ed. Ludwig).

Die Entstehung einer neuen Welt.
auf Leonardo hinzuweisen, begnüge mich also hier daran zu erinnern,
dass er Mathematiker, Mechaniker, Ingenieur, Astronom, Geolog,
Anatom, Physiolog war. Hat auch die kurze Spanne eines Menschen-
lebens nicht genügt, damit er hier überall, wie auf dem Gebiete der
Kunst, Unsterbliches leiste, die vielen richtigen Ahnungen des erst
viel später Entdeckten besitzen um so mehr Wert, als sie nicht luftige
Intuitionen sind, sondern das Ergebnis der Beobachtung und einer streng
wissenschaftlichen Denkmethode. Das grosse mittlere Prinzip unserer
gesamten Naturwissenschaft: Mathematik und Experiment, hat er zuerst
klar aufgestellt. »Alles wissen ist eitel«, sagt er, »welches nicht auf
Erfahrungsthatsachen fusst und Schritt für Schritt bis zum wissen-
schaftlich angestellten Versuch verfolgt werden kann.«1) Ob Herr
Schultz Leonardo einen »Gelehrten« nennen würde, weiss ich aller-
dings nicht; jedoch zeigt die Geschichte, dass es auch in den Wissen-
schaften etwas grösseres giebt als Gelehrsamkeit, nämlich Genie; und
Leonardo ist ohne Frage eines der hervorragendsten wissenschaftlichen
Genies aller Zeiten. — Doch sehen wir weiter, ob es nicht einen
ausschliesslich »wissenschaftlichen« Zeitgenossen Michelangelo’s und
Raffael’s giebt, würdig ihnen »annähernd an die Seite gestellt zu
werden.« Nichts ist schwerer, als für vergangene wissenschaftliche
Grössen anerkennendes Verständnis zu wecken, und wollte ich als
Beispiele von Naturforschern, deren Leben »innerhalb« des Lebens
Michelangelo’s fällt, auf Vesalius, den unsterblichen Begründer der
menschlichen Anatomie, auf Servet, den Vorentdecker des Blutum-
laufes, auf Konrad Gessner, jenes erstaunlich vielseitige Muster aller
späteren »Naturalisten«, und noch auf Andere hinweisen, so müsste
ich zu jedem Namen einen Kommentar geben, und trotzdem würde
ein ganzes Leben erfolgreicher Arbeit in der dunklen Vorstellung eines
Laien immer noch wenig wiegen im Vergleich zu einem einzigen aus
Anschauung ihm bekannten Kunstwerke. Doch zum Glück brauchen
wir in diesem Falle nicht lange zu suchen, um einen Namen zu
finden, dessen Glanz selbst bis in das unwissenschaftlichste Hirn ge-
drungen ist. Denn bei aller grossen Verehrung für jene unsterblichen

— worauf man mit der Frage erwidern möchte, wo er denn überhaupt ausset
bei uns Germanen auf eine wahre »Blüte der Wissenschaft« hinweisen könne?
Er würde sehr verlegen um eine Antwort sein. Und bei uns — das könnte er
nicht leugnen — geht die Kunst von Giotto bis Goethe ihren Gang parallel mit
der Wissenschaft von Roger Bacon bis Cuvier.
1) Libro di pittura, § 33 (ed. Ludwig).
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[966/0445] Die Entstehung einer neuen Welt. auf Leonardo hinzuweisen, begnüge mich also hier daran zu erinnern, dass er Mathematiker, Mechaniker, Ingenieur, Astronom, Geolog, Anatom, Physiolog war. Hat auch die kurze Spanne eines Menschen- lebens nicht genügt, damit er hier überall, wie auf dem Gebiete der Kunst, Unsterbliches leiste, die vielen richtigen Ahnungen des erst viel später Entdeckten besitzen um so mehr Wert, als sie nicht luftige Intuitionen sind, sondern das Ergebnis der Beobachtung und einer streng wissenschaftlichen Denkmethode. Das grosse mittlere Prinzip unserer gesamten Naturwissenschaft: Mathematik und Experiment, hat er zuerst klar aufgestellt. »Alles wissen ist eitel«, sagt er, »welches nicht auf Erfahrungsthatsachen fusst und Schritt für Schritt bis zum wissen- schaftlich angestellten Versuch verfolgt werden kann.« 1) Ob Herr Schultz Leonardo einen »Gelehrten« nennen würde, weiss ich aller- dings nicht; jedoch zeigt die Geschichte, dass es auch in den Wissen- schaften etwas grösseres giebt als Gelehrsamkeit, nämlich Genie; und Leonardo ist ohne Frage eines der hervorragendsten wissenschaftlichen Genies aller Zeiten. — Doch sehen wir weiter, ob es nicht einen ausschliesslich »wissenschaftlichen« Zeitgenossen Michelangelo’s und Raffael’s giebt, würdig ihnen »annähernd an die Seite gestellt zu werden.« Nichts ist schwerer, als für vergangene wissenschaftliche Grössen anerkennendes Verständnis zu wecken, und wollte ich als Beispiele von Naturforschern, deren Leben »innerhalb« des Lebens Michelangelo’s fällt, auf Vesalius, den unsterblichen Begründer der menschlichen Anatomie, auf Servet, den Vorentdecker des Blutum- laufes, auf Konrad Gessner, jenes erstaunlich vielseitige Muster aller späteren »Naturalisten«, und noch auf Andere hinweisen, so müsste ich zu jedem Namen einen Kommentar geben, und trotzdem würde ein ganzes Leben erfolgreicher Arbeit in der dunklen Vorstellung eines Laien immer noch wenig wiegen im Vergleich zu einem einzigen aus Anschauung ihm bekannten Kunstwerke. Doch zum Glück brauchen wir in diesem Falle nicht lange zu suchen, um einen Namen zu finden, dessen Glanz selbst bis in das unwissenschaftlichste Hirn ge- drungen ist. Denn bei aller grossen Verehrung für jene unsterblichen 2) 1) Libro di pittura, § 33 (ed. Ludwig). 2) — worauf man mit der Frage erwidern möchte, wo er denn überhaupt ausset bei uns Germanen auf eine wahre »Blüte der Wissenschaft« hinweisen könne? Er würde sehr verlegen um eine Antwort sein. Und bei uns — das könnte er nicht leugnen — geht die Kunst von Giotto bis Goethe ihren Gang parallel mit der Wissenschaft von Roger Bacon bis Cuvier.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 966. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/445>, abgerufen am 27.04.2024.