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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Hellenen sündigten im anderen Extrem: sie besassen eine wissen-
schaftlich ausgebildete, doch eng einschränkende musikalische Theorie,
und ihre Tonkunst entwickelte sich in so unmittelbarer, untrennbarer
Vereinigung mit ihrer Dichtkunst -- der Ton gleichsam des Wortes
Leib --, dass sie nie zu irgend einer Selbständigkeit, dadurch aber
auch zu keinem höheren Ausdrucksleben gelangte. Der Sprachaus-
druck
bildete durchwegs die Grundlage der hellenischen Musik: aus
ihm, nicht aus reinmusikalischen Erwägungen, erwuchsen sogar die
Tonarten der Griechen; und anstatt, wie wir, das harmonische Gebilde
von unten nach oben aufzubauen (was ja nicht Willkür ist, sondern
durch die Thatsachen der Akustik -- nämlich durch das Vorhandensein
der mitklingenden Obertöne -- begründet wird), baute der Grieche von
oben nach unten. Oben schwebte bei ihm die Melodie der Sprache, und
zwar selbständig, ungebunden durch Rücksichten auf den musikalischen
Aufbau, gewissermassen also ein "gesungenes Sprechen"; an die Sing-
stimme schloss sich nach unten zu, jeder Selbständigkeit bar, die in-
strumentale Begleitung. Selbst der Laie wird verstehen, dass auf solcher
Grundlage das Gehör nicht ausgebildet werden und die Musik zu
keiner selbständigen Kunst heranwachsen konnte; die Musik blieb unter
solchen Bedingungen mehr ein unentbehrliches künstlerisches Element,
als eine gestaltende Kunst.1) Was also bei den Indern durch eine über-
triebene Verfeinerung des Gehörs vereitelt wurde, war bei den Hellenen
in Folge der Zurückdrängung des musikalischen Sinnes zu Gunsten
des sprachlichen Ausdrucks von vornherein ausgeschlossen. Schiller

Herzen gehen, d. h. also absolut musikalisch wirken muss, als jede gelernte und
eingedrillte. Leider aber enthält eine derartige Leistung keine Elemente, woraus
dauernde Kunstwerke geschmiedet werden könnten (man braucht nur auf jene
blöden Parodien ungarischer Musik, welche unter dem Namen "Ungarische Tänze"
eine traurig grosse Popularität geniessen, hinzuweisen); es handelt sich überhaupt
hier nicht um eigentliche Kunst, sondern um etwas, was tiefer liegt, um das Element,
aus welchem Kunst erst entsteigt; es ist nicht die meergeborene Aphrodite, sondern
das Meer selbst.
1) Insofern besteht eine Analogie zwischen der indischen und der hellenischen
Musik, wie verschieden sie sonst auch seien; in dem einen Fall ist es Überwucherung
des musikalischen Ausdruckes, in dem anderen Hintanhaltung desselben, der den
Eindruck eines noch ungestalteten Elementaren im Gegensatz zu echter, geformter
Kunst hervorbringt. Um tieferen Einblick in das Wesen der hellenischen Musik
zu gewinnen, empfehle ich namentlich die kleine Schrift von Hausegger: Die Anfänge
der Harmonie,
1895; aus diesen 76 Seiten lernt man mehr und Entscheidenderes,
als aus ganzen Bänden.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Hellenen sündigten im anderen Extrem: sie besassen eine wissen-
schaftlich ausgebildete, doch eng einschränkende musikalische Theorie,
und ihre Tonkunst entwickelte sich in so unmittelbarer, untrennbarer
Vereinigung mit ihrer Dichtkunst — der Ton gleichsam des Wortes
Leib —, dass sie nie zu irgend einer Selbständigkeit, dadurch aber
auch zu keinem höheren Ausdrucksleben gelangte. Der Sprachaus-
druck
bildete durchwegs die Grundlage der hellenischen Musik: aus
ihm, nicht aus reinmusikalischen Erwägungen, erwuchsen sogar die
Tonarten der Griechen; und anstatt, wie wir, das harmonische Gebilde
von unten nach oben aufzubauen (was ja nicht Willkür ist, sondern
durch die Thatsachen der Akustik — nämlich durch das Vorhandensein
der mitklingenden Obertöne — begründet wird), baute der Grieche von
oben nach unten. Oben schwebte bei ihm die Melodie der Sprache, und
zwar selbständig, ungebunden durch Rücksichten auf den musikalischen
Aufbau, gewissermassen also ein »gesungenes Sprechen«; an die Sing-
stimme schloss sich nach unten zu, jeder Selbständigkeit bar, die in-
strumentale Begleitung. Selbst der Laie wird verstehen, dass auf solcher
Grundlage das Gehör nicht ausgebildet werden und die Musik zu
keiner selbständigen Kunst heranwachsen konnte; die Musik blieb unter
solchen Bedingungen mehr ein unentbehrliches künstlerisches Element,
als eine gestaltende Kunst.1) Was also bei den Indern durch eine über-
triebene Verfeinerung des Gehörs vereitelt wurde, war bei den Hellenen
in Folge der Zurückdrängung des musikalischen Sinnes zu Gunsten
des sprachlichen Ausdrucks von vornherein ausgeschlossen. Schiller

Herzen gehen, d. h. also absolut musikalisch wirken muss, als jede gelernte und
eingedrillte. Leider aber enthält eine derartige Leistung keine Elemente, woraus
dauernde Kunstwerke geschmiedet werden könnten (man braucht nur auf jene
blöden Parodien ungarischer Musik, welche unter dem Namen »Ungarische Tänze«
eine traurig grosse Popularität geniessen, hinzuweisen); es handelt sich überhaupt
hier nicht um eigentliche Kunst, sondern um etwas, was tiefer liegt, um das Element,
aus welchem Kunst erst entsteigt; es ist nicht die meergeborene Aphrodite, sondern
das Meer selbst.
1) Insofern besteht eine Analogie zwischen der indischen und der hellenischen
Musik, wie verschieden sie sonst auch seien; in dem einen Fall ist es Überwucherung
des musikalischen Ausdruckes, in dem anderen Hintanhaltung desselben, der den
Eindruck eines noch ungestalteten Elementaren im Gegensatz zu echter, geformter
Kunst hervorbringt. Um tieferen Einblick in das Wesen der hellenischen Musik
zu gewinnen, empfehle ich namentlich die kleine Schrift von Hausegger: Die Anfänge
der Harmonie,
1895; aus diesen 76 Seiten lernt man mehr und Entscheidenderes,
als aus ganzen Bänden.
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[978/0457] Die Entstehung einer neuen Welt. Hellenen sündigten im anderen Extrem: sie besassen eine wissen- schaftlich ausgebildete, doch eng einschränkende musikalische Theorie, und ihre Tonkunst entwickelte sich in so unmittelbarer, untrennbarer Vereinigung mit ihrer Dichtkunst — der Ton gleichsam des Wortes Leib —, dass sie nie zu irgend einer Selbständigkeit, dadurch aber auch zu keinem höheren Ausdrucksleben gelangte. Der Sprachaus- druck bildete durchwegs die Grundlage der hellenischen Musik: aus ihm, nicht aus reinmusikalischen Erwägungen, erwuchsen sogar die Tonarten der Griechen; und anstatt, wie wir, das harmonische Gebilde von unten nach oben aufzubauen (was ja nicht Willkür ist, sondern durch die Thatsachen der Akustik — nämlich durch das Vorhandensein der mitklingenden Obertöne — begründet wird), baute der Grieche von oben nach unten. Oben schwebte bei ihm die Melodie der Sprache, und zwar selbständig, ungebunden durch Rücksichten auf den musikalischen Aufbau, gewissermassen also ein »gesungenes Sprechen«; an die Sing- stimme schloss sich nach unten zu, jeder Selbständigkeit bar, die in- strumentale Begleitung. Selbst der Laie wird verstehen, dass auf solcher Grundlage das Gehör nicht ausgebildet werden und die Musik zu keiner selbständigen Kunst heranwachsen konnte; die Musik blieb unter solchen Bedingungen mehr ein unentbehrliches künstlerisches Element, als eine gestaltende Kunst. 1) Was also bei den Indern durch eine über- triebene Verfeinerung des Gehörs vereitelt wurde, war bei den Hellenen in Folge der Zurückdrängung des musikalischen Sinnes zu Gunsten des sprachlichen Ausdrucks von vornherein ausgeschlossen. Schiller 2) 1) Insofern besteht eine Analogie zwischen der indischen und der hellenischen Musik, wie verschieden sie sonst auch seien; in dem einen Fall ist es Überwucherung des musikalischen Ausdruckes, in dem anderen Hintanhaltung desselben, der den Eindruck eines noch ungestalteten Elementaren im Gegensatz zu echter, geformter Kunst hervorbringt. Um tieferen Einblick in das Wesen der hellenischen Musik zu gewinnen, empfehle ich namentlich die kleine Schrift von Hausegger: Die Anfänge der Harmonie, 1895; aus diesen 76 Seiten lernt man mehr und Entscheidenderes, als aus ganzen Bänden. 2) Herzen gehen, d. h. also absolut musikalisch wirken muss, als jede gelernte und eingedrillte. Leider aber enthält eine derartige Leistung keine Elemente, woraus dauernde Kunstwerke geschmiedet werden könnten (man braucht nur auf jene blöden Parodien ungarischer Musik, welche unter dem Namen »Ungarische Tänze« eine traurig grosse Popularität geniessen, hinzuweisen); es handelt sich überhaupt hier nicht um eigentliche Kunst, sondern um etwas, was tiefer liegt, um das Element, aus welchem Kunst erst entsteigt; es ist nicht die meergeborene Aphrodite, sondern das Meer selbst.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 978. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/457>, abgerufen am 06.05.2024.