Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Kunst.
Stimmung zu Grunde liegt, ist ein blosses Gaukeln mit Schwingungs-
verhältnissen. Geht man nun der Geschichte unserer germanischen
Musik sorgfältig nach, so wird man etwas entdecken, was den meisten
unserer Zeitgenossen gewiss unbekannt und unerwartet ist: dass sie
nämlich sich von Anfang an nur in unmittelbarster Anlehnung an die
Dichtkunst und mit ihr innig verschmolzen entwickelt hat. Nicht
allein war alle alte germanische Poesie zugleich Wort- und Tonkunst,
nicht allein waren später alle Troubadours und Minnesänger genau
eben so sehr Musiker wie Dichter, sondern als vom Beginn des 11. Jahr-
hunderts an, mit Guido von Arezzo, unsere Musik ihren Siegeslauf zu
technischer Vollendung und nie geahntem Reichtum der Ausdrucks-
fähigkeit antrat, geschah das durchwegs als Gesang. Die Ausbildung
des Gehörs, die allmähliche Entdeckung der harmonischen Möglichkeiten,
das erstaunliche Kunstgebäude des Kontrapunktes (durch das die Ton-
kunst sich gleichsam ein eigenes Heim erbaut, in welchem sie als Herrin
schalten kann): das alles haben wir uns nicht abseits erklügelt, wie
die griechischen Theoretiker, auch nicht in einem instrumentalen Rausch
erfunden, wie die Schwärmer für eine angeblich "absolute" Musik sich
einbilden, sondern wir haben es uns "ersungen". Schon jener Guido
meinte, der Weg der Philosophen sei nicht für ihn, ihn interessiere
nur die Förderung des Kirchengesanges und die Heranbildung der
Sänger. Jahrhunderte lang hat es keine Musik gegeben, die nicht
Gesang und Begleitung des Gesanges gewesen wäre. Und scheint
auch dieser Gesang manchmal recht willkürlich und gewaltsam mit
dem Worte umzugehen, schwindet auch. manchmal der Ausdruck zu
Gunsten vielstimmiger kontrapunktischer Kunststücke, es braucht nur
ein wahrhaft grosser Meister zu kommen und sofort erfahren wir,
wozu das alles gut war: nämlich, zur technischen Bewältigung des
Materials zu Gunsten der Ausdrucksfähigkeit. So schreitet unsere Ton-
kunst von Meister zu Meister weiter: die Technik der Komposition
immer vollkommener, die Sänger und Instrumentisten immer virtuoser,
das musikalische Genie in Folge dessen immer freier. Schon von
Josquin de Pres hiess es unter seinen Zeitgenossen: "Andere haben
thun müssen wie die Noten wollen, aber Josquin ist ein Meister der
Noten, diese müssen thun, wie er will". Und was wollte er? Wer
nicht in der Lage ist, Werke dieses herrlichen Künstlers zu hören,
lese bei Ambros (III, 211 fg.), wie er es verstand, nicht allein die Ge-
samtstimmung jedes poetischen Gebildes, eines Miserere, eines Te Deum,
einer Motette, eines lustigen (manchmal recht frivolen) mehrstimmigen

Kunst.
Stimmung zu Grunde liegt, ist ein blosses Gaukeln mit Schwingungs-
verhältnissen. Geht man nun der Geschichte unserer germanischen
Musik sorgfältig nach, so wird man etwas entdecken, was den meisten
unserer Zeitgenossen gewiss unbekannt und unerwartet ist: dass sie
nämlich sich von Anfang an nur in unmittelbarster Anlehnung an die
Dichtkunst und mit ihr innig verschmolzen entwickelt hat. Nicht
allein war alle alte germanische Poesie zugleich Wort- und Tonkunst,
nicht allein waren später alle Troubadours und Minnesänger genau
eben so sehr Musiker wie Dichter, sondern als vom Beginn des 11. Jahr-
hunderts an, mit Guido von Arezzo, unsere Musik ihren Siegeslauf zu
technischer Vollendung und nie geahntem Reichtum der Ausdrucks-
fähigkeit antrat, geschah das durchwegs als Gesang. Die Ausbildung
des Gehörs, die allmähliche Entdeckung der harmonischen Möglichkeiten,
das erstaunliche Kunstgebäude des Kontrapunktes (durch das die Ton-
kunst sich gleichsam ein eigenes Heim erbaut, in welchem sie als Herrin
schalten kann): das alles haben wir uns nicht abseits erklügelt, wie
die griechischen Theoretiker, auch nicht in einem instrumentalen Rausch
erfunden, wie die Schwärmer für eine angeblich »absolute« Musik sich
einbilden, sondern wir haben es uns »ersungen«. Schon jener Guido
meinte, der Weg der Philosophen sei nicht für ihn, ihn interessiere
nur die Förderung des Kirchengesanges und die Heranbildung der
Sänger. Jahrhunderte lang hat es keine Musik gegeben, die nicht
Gesang und Begleitung des Gesanges gewesen wäre. Und scheint
auch dieser Gesang manchmal recht willkürlich und gewaltsam mit
dem Worte umzugehen, schwindet auch. manchmal der Ausdruck zu
Gunsten vielstimmiger kontrapunktischer Kunststücke, es braucht nur
ein wahrhaft grosser Meister zu kommen und sofort erfahren wir,
wozu das alles gut war: nämlich, zur technischen Bewältigung des
Materials zu Gunsten der Ausdrucksfähigkeit. So schreitet unsere Ton-
kunst von Meister zu Meister weiter: die Technik der Komposition
immer vollkommener, die Sänger und Instrumentisten immer virtuoser,
das musikalische Genie in Folge dessen immer freier. Schon von
Josquin de Près hiess es unter seinen Zeitgenossen: »Andere haben
thun müssen wie die Noten wollen, aber Josquin ist ein Meister der
Noten, diese müssen thun, wie er will«. Und was wollte er? Wer
nicht in der Lage ist, Werke dieses herrlichen Künstlers zu hören,
lese bei Ambros (III, 211 fg.), wie er es verstand, nicht allein die Ge-
samtstimmung jedes poetischen Gebildes, eines Miserere, eines Te Deum,
einer Motette, eines lustigen (manchmal recht frivolen) mehrstimmigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0460" n="981"/><fw place="top" type="header">Kunst.</fw><lb/>
Stimmung zu Grunde liegt, ist ein blosses Gaukeln mit Schwingungs-<lb/>
verhältnissen. Geht man nun der Geschichte unserer germanischen<lb/>
Musik sorgfältig nach, so wird man etwas entdecken, was den meisten<lb/>
unserer Zeitgenossen gewiss unbekannt und unerwartet ist: dass sie<lb/>
nämlich sich von Anfang an nur in unmittelbarster Anlehnung an die<lb/>
Dichtkunst und mit ihr innig verschmolzen entwickelt hat. Nicht<lb/>
allein war alle alte germanische Poesie zugleich Wort- und Tonkunst,<lb/>
nicht allein waren später alle Troubadours und Minnesänger genau<lb/>
eben so sehr Musiker wie Dichter, sondern als vom Beginn des 11. Jahr-<lb/>
hunderts an, mit Guido von Arezzo, unsere Musik ihren Siegeslauf zu<lb/>
technischer Vollendung und nie geahntem Reichtum der Ausdrucks-<lb/>
fähigkeit antrat, geschah das durchwegs als Gesang. Die Ausbildung<lb/>
des Gehörs, die allmähliche Entdeckung der harmonischen Möglichkeiten,<lb/>
das erstaunliche Kunstgebäude des Kontrapunktes (durch das die Ton-<lb/>
kunst sich gleichsam ein eigenes Heim erbaut, in welchem sie als Herrin<lb/>
schalten kann): das alles haben wir uns nicht abseits erklügelt, wie<lb/>
die griechischen Theoretiker, auch nicht in einem instrumentalen Rausch<lb/>
erfunden, wie die Schwärmer für eine angeblich »absolute« Musik sich<lb/>
einbilden, sondern wir haben es uns »ersungen«. Schon jener Guido<lb/>
meinte, der Weg der Philosophen sei nicht für ihn, ihn interessiere<lb/>
nur die Förderung des Kirchengesanges und die Heranbildung der<lb/>
Sänger. Jahrhunderte lang hat es keine Musik gegeben, die nicht<lb/>
Gesang und Begleitung des Gesanges gewesen wäre. Und scheint<lb/>
auch dieser Gesang manchmal recht willkürlich und gewaltsam mit<lb/>
dem Worte umzugehen, schwindet auch. manchmal der Ausdruck zu<lb/>
Gunsten vielstimmiger kontrapunktischer Kunststücke, es braucht nur<lb/>
ein wahrhaft grosser Meister zu kommen und sofort erfahren wir,<lb/>
wozu das alles gut war: nämlich, zur technischen Bewältigung des<lb/>
Materials zu Gunsten der Ausdrucksfähigkeit. So schreitet unsere Ton-<lb/>
kunst von Meister zu Meister weiter: die Technik der Komposition<lb/>
immer vollkommener, die Sänger und Instrumentisten immer virtuoser,<lb/>
das musikalische Genie in Folge dessen immer freier. Schon von<lb/>
Josquin de Près hiess es unter seinen Zeitgenossen: »Andere haben<lb/>
thun müssen wie die Noten wollen, aber Josquin ist ein Meister der<lb/>
Noten, diese müssen thun, wie er will«. Und was wollte er? Wer<lb/>
nicht in der Lage ist, Werke dieses herrlichen Künstlers zu hören,<lb/>
lese bei Ambros (III, 211 fg.), wie er es verstand, nicht allein die Ge-<lb/>
samtstimmung jedes poetischen Gebildes, eines <hi rendition="#i">Miserere,</hi> eines <hi rendition="#i">Te Deum,</hi><lb/>
einer <hi rendition="#i">Motette,</hi> eines lustigen (manchmal recht frivolen) mehrstimmigen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[981/0460] Kunst. Stimmung zu Grunde liegt, ist ein blosses Gaukeln mit Schwingungs- verhältnissen. Geht man nun der Geschichte unserer germanischen Musik sorgfältig nach, so wird man etwas entdecken, was den meisten unserer Zeitgenossen gewiss unbekannt und unerwartet ist: dass sie nämlich sich von Anfang an nur in unmittelbarster Anlehnung an die Dichtkunst und mit ihr innig verschmolzen entwickelt hat. Nicht allein war alle alte germanische Poesie zugleich Wort- und Tonkunst, nicht allein waren später alle Troubadours und Minnesänger genau eben so sehr Musiker wie Dichter, sondern als vom Beginn des 11. Jahr- hunderts an, mit Guido von Arezzo, unsere Musik ihren Siegeslauf zu technischer Vollendung und nie geahntem Reichtum der Ausdrucks- fähigkeit antrat, geschah das durchwegs als Gesang. Die Ausbildung des Gehörs, die allmähliche Entdeckung der harmonischen Möglichkeiten, das erstaunliche Kunstgebäude des Kontrapunktes (durch das die Ton- kunst sich gleichsam ein eigenes Heim erbaut, in welchem sie als Herrin schalten kann): das alles haben wir uns nicht abseits erklügelt, wie die griechischen Theoretiker, auch nicht in einem instrumentalen Rausch erfunden, wie die Schwärmer für eine angeblich »absolute« Musik sich einbilden, sondern wir haben es uns »ersungen«. Schon jener Guido meinte, der Weg der Philosophen sei nicht für ihn, ihn interessiere nur die Förderung des Kirchengesanges und die Heranbildung der Sänger. Jahrhunderte lang hat es keine Musik gegeben, die nicht Gesang und Begleitung des Gesanges gewesen wäre. Und scheint auch dieser Gesang manchmal recht willkürlich und gewaltsam mit dem Worte umzugehen, schwindet auch. manchmal der Ausdruck zu Gunsten vielstimmiger kontrapunktischer Kunststücke, es braucht nur ein wahrhaft grosser Meister zu kommen und sofort erfahren wir, wozu das alles gut war: nämlich, zur technischen Bewältigung des Materials zu Gunsten der Ausdrucksfähigkeit. So schreitet unsere Ton- kunst von Meister zu Meister weiter: die Technik der Komposition immer vollkommener, die Sänger und Instrumentisten immer virtuoser, das musikalische Genie in Folge dessen immer freier. Schon von Josquin de Près hiess es unter seinen Zeitgenossen: »Andere haben thun müssen wie die Noten wollen, aber Josquin ist ein Meister der Noten, diese müssen thun, wie er will«. Und was wollte er? Wer nicht in der Lage ist, Werke dieses herrlichen Künstlers zu hören, lese bei Ambros (III, 211 fg.), wie er es verstand, nicht allein die Ge- samtstimmung jedes poetischen Gebildes, eines Miserere, eines Te Deum, einer Motette, eines lustigen (manchmal recht frivolen) mehrstimmigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/460
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 981. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/460>, abgerufen am 06.05.2024.