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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
aufgezwungen und "den unvergleichlichen Doktoren der Vernunft"
(wie er sie spottend nennt) mit Gewalt den Mund geschlossen hätte;
es scheiterte der fromme Abt Joachim in seinem Kampf gegen "die
Vergötterung der römischen Kirche" und gegen die "fleischlichen Vor-
stellungen" der Sakramente; es scheiterte Spanien, das trotz seiner Katho-
lizität die Beschlüsse des Tridentiner Konzils anzunehmen sich geweigert
hatte; es scheiterte das devote österreichische Haus, sowie das bayerische,
welche als Belohnung für ihre gesinnungslose Unterwürfigkeit noch
bis ins 17. Jahrhundert um die Beibehaltung des Laienkelches und der
Priesterehe in ihren Staaten kämpften;1) es scheiterte Polen in seinen
kühnen Reformationsversuchen;2) es scheiterte Frankreich, trotz aller
Zähigkeit, in seinem Versuch, den Schatten einer halb unabhängigen galli-
kanischen Kirche sich zu bewahren -- -- -- vor allem aber scheiterten,
von Augustinus bis Jansenius, stets alle Diejenigen, welche die aposto-
lische Lehre vom Glauben und von der Gnade in ihrer reinen Un-
verfälschtheit in das römische System einzuführen suchten, sowie, von
Dante bis Lamennais und Döllinger, alle Diejenigen, welche die Trennung
von Kirche und Staat und die Religionsfreiheit des Individuums forderten.
Alle diese Männer und Bewegungen -- und ihre Zahl ist in allen Jahr-
hunderten Legion -- verfuhren, ich wiederhole es, unlogisch und in-
konsequent; denn entweder wollten sie die zu Grunde liegende römische
Idee reformieren, oder sie wollten sich innerhalb dieser Idee ein ge-
wisses Mass von persönlicher, resp. nationaler Freiheit reservieren:
beides eine offenbare Ungereimtheit. Denn das Grundprinzip Rom's
ist (nicht bloss seit 1870, sondern seit jeher) seine göttliche Einsetzung
und daraus folgende Unfehlbarkeit; ihm gegenüber kann Freiheit der
Meinung nur frevelhafte Willkür sein; und was seine Reform anbelangt,
so ist darauf zu erwidern, dass die römische Idee, so kompliziert sie
sich bei näherer Betrachtung uns auch erweist, doch ein organisches
Produkt ist, ruhend auf den festen Grundlagen mehrtausendjähriger
Geschichte und weiter aufgebaut unter genauer Berücksichtigung des
Charakters und der Religionsbedürfnisse aller jener Menschen, welche
in irgend einer Beziehung dem Völkerchaos angehören -- und wie
weit sein Bereich sich erstreckt, wissen wir ja.3) Wie konnte ein Mann

1) Für diese Behauptung und die vorangehende vergl. des Stiftsherrn Smets
bischöflich approbierte Ausgabe der Concilii Tridentini canones et decreta mit geschicht-
licher Einleitung, 1854, S. XXIII.
2) Siehe S. 480.
3) Vergl. S. 297 u. 319.

Der Kampf.
aufgezwungen und »den unvergleichlichen Doktoren der Vernunft«
(wie er sie spottend nennt) mit Gewalt den Mund geschlossen hätte;
es scheiterte der fromme Abt Joachim in seinem Kampf gegen »die
Vergötterung der römischen Kirche« und gegen die »fleischlichen Vor-
stellungen« der Sakramente; es scheiterte Spanien, das trotz seiner Katho-
lizität die Beschlüsse des Tridentiner Konzils anzunehmen sich geweigert
hatte; es scheiterte das devote österreichische Haus, sowie das bayerische,
welche als Belohnung für ihre gesinnungslose Unterwürfigkeit noch
bis ins 17. Jahrhundert um die Beibehaltung des Laienkelches und der
Priesterehe in ihren Staaten kämpften;1) es scheiterte Polen in seinen
kühnen Reformationsversuchen;2) es scheiterte Frankreich, trotz aller
Zähigkeit, in seinem Versuch, den Schatten einer halb unabhängigen galli-
kanischen Kirche sich zu bewahren — — — vor allem aber scheiterten,
von Augustinus bis Jansenius, stets alle Diejenigen, welche die aposto-
lische Lehre vom Glauben und von der Gnade in ihrer reinen Un-
verfälschtheit in das römische System einzuführen suchten, sowie, von
Dante bis Lamennais und Döllinger, alle Diejenigen, welche die Trennung
von Kirche und Staat und die Religionsfreiheit des Individuums forderten.
Alle diese Männer und Bewegungen — und ihre Zahl ist in allen Jahr-
hunderten Legion — verfuhren, ich wiederhole es, unlogisch und in-
konsequent; denn entweder wollten sie die zu Grunde liegende römische
Idee reformieren, oder sie wollten sich innerhalb dieser Idee ein ge-
wisses Mass von persönlicher, resp. nationaler Freiheit reservieren:
beides eine offenbare Ungereimtheit. Denn das Grundprinzip Rom’s
ist (nicht bloss seit 1870, sondern seit jeher) seine göttliche Einsetzung
und daraus folgende Unfehlbarkeit; ihm gegenüber kann Freiheit der
Meinung nur frevelhafte Willkür sein; und was seine Reform anbelangt,
so ist darauf zu erwidern, dass die römische Idee, so kompliziert sie
sich bei näherer Betrachtung uns auch erweist, doch ein organisches
Produkt ist, ruhend auf den festen Grundlagen mehrtausendjähriger
Geschichte und weiter aufgebaut unter genauer Berücksichtigung des
Charakters und der Religionsbedürfnisse aller jener Menschen, welche
in irgend einer Beziehung dem Völkerchaos angehören — und wie
weit sein Bereich sich erstreckt, wissen wir ja.3) Wie konnte ein Mann

1) Für diese Behauptung und die vorangehende vergl. des Stiftsherrn Smets
bischöflich approbierte Ausgabe der Concilii Tridentini canones et decreta mit geschicht-
licher Einleitung, 1854, S. XXIII.
2) Siehe S. 480.
3) Vergl. S. 297 u. 319.
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[614/0093] Der Kampf. aufgezwungen und »den unvergleichlichen Doktoren der Vernunft« (wie er sie spottend nennt) mit Gewalt den Mund geschlossen hätte; es scheiterte der fromme Abt Joachim in seinem Kampf gegen »die Vergötterung der römischen Kirche« und gegen die »fleischlichen Vor- stellungen« der Sakramente; es scheiterte Spanien, das trotz seiner Katho- lizität die Beschlüsse des Tridentiner Konzils anzunehmen sich geweigert hatte; es scheiterte das devote österreichische Haus, sowie das bayerische, welche als Belohnung für ihre gesinnungslose Unterwürfigkeit noch bis ins 17. Jahrhundert um die Beibehaltung des Laienkelches und der Priesterehe in ihren Staaten kämpften; 1) es scheiterte Polen in seinen kühnen Reformationsversuchen; 2) es scheiterte Frankreich, trotz aller Zähigkeit, in seinem Versuch, den Schatten einer halb unabhängigen galli- kanischen Kirche sich zu bewahren — — — vor allem aber scheiterten, von Augustinus bis Jansenius, stets alle Diejenigen, welche die aposto- lische Lehre vom Glauben und von der Gnade in ihrer reinen Un- verfälschtheit in das römische System einzuführen suchten, sowie, von Dante bis Lamennais und Döllinger, alle Diejenigen, welche die Trennung von Kirche und Staat und die Religionsfreiheit des Individuums forderten. Alle diese Männer und Bewegungen — und ihre Zahl ist in allen Jahr- hunderten Legion — verfuhren, ich wiederhole es, unlogisch und in- konsequent; denn entweder wollten sie die zu Grunde liegende römische Idee reformieren, oder sie wollten sich innerhalb dieser Idee ein ge- wisses Mass von persönlicher, resp. nationaler Freiheit reservieren: beides eine offenbare Ungereimtheit. Denn das Grundprinzip Rom’s ist (nicht bloss seit 1870, sondern seit jeher) seine göttliche Einsetzung und daraus folgende Unfehlbarkeit; ihm gegenüber kann Freiheit der Meinung nur frevelhafte Willkür sein; und was seine Reform anbelangt, so ist darauf zu erwidern, dass die römische Idee, so kompliziert sie sich bei näherer Betrachtung uns auch erweist, doch ein organisches Produkt ist, ruhend auf den festen Grundlagen mehrtausendjähriger Geschichte und weiter aufgebaut unter genauer Berücksichtigung des Charakters und der Religionsbedürfnisse aller jener Menschen, welche in irgend einer Beziehung dem Völkerchaos angehören — und wie weit sein Bereich sich erstreckt, wissen wir ja. 3) Wie konnte ein Mann 1) Für diese Behauptung und die vorangehende vergl. des Stiftsherrn Smets bischöflich approbierte Ausgabe der Concilii Tridentini canones et decreta mit geschicht- licher Einleitung, 1854, S. XXIII. 2) Siehe S. 480. 3) Vergl. S. 297 u. 319.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/93>, abgerufen am 26.04.2024.