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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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Siebentes Capitel,
die Zerrüttung einer Geschichte hat, ist es sehr
schwer, etwas deutliches zu sagen, und deswe-
gen auch so sehr nicht nöthig, weil unsere gelehrte
Geschichtskunde sich nicht mehr auf mündliche
Nachrichten, sondern auf schrifftliche Urkunden zu
beziehen pflegen: und sind gleich einige Stücke
derselben aus dem Ruffe genommen, wie sich z. E.
Livius in der Römischen Historie, Eusebius
in der Kirchenhistorie jezuweilen darauf beziehen,
so können wir doch nunmehro nicht bis auf die er-
ste
mündliche Nachricht, aus welcher der Ruff
entstanden, zurückgehen, sondern müssen es bey
dem, was geschrieben stehet, bewenden lassen.
Wenn es aber einer aus dem andern schreibt,
und dem andern nachschreibt, und doch nicht
einerley Worte braucht, so gehet ebenfals in der
Nachricht von der Geschichte eine Veränderung
vor, wie bey der mündlichen Ausbreitung: da
aber eine solche Veränderung der Worte eher
mit Vorbedacht und Vernunfft geschiehet, so läs-
set sich auch eher etwas deutlich davon sagen: wie
nehmlich ein Nachsager von seinem Vorgänger,
wenn er nicht genau bey seinen Worten bleibt, un-
vermerckt die Geschichte ändern kan, ohne daß er
Willens ist, Unwahrheiten zu sagen. Hat aber
ein Nachsager gar den Vorsatz, die Geschichte zu
verstümmeln, und Unwahrheiten zu schreiben, so
siehet jeder, daß solches auf unzehlige Weise ge-
schehen könne, und daß sich davon keine Regeln
geben lassen.

§. 22.

Siebentes Capitel,
die Zerruͤttung einer Geſchichte hat, iſt es ſehr
ſchwer, etwas deutliches zu ſagen, und deswe-
gen auch ſo ſehr nicht noͤthig, weil unſere gelehrte
Geſchichtskunde ſich nicht mehr auf muͤndliche
Nachrichten, ſondern auf ſchrifftliche Urkunden zu
beziehen pflegen: und ſind gleich einige Stuͤcke
derſelben aus dem Ruffe genommen, wie ſich z. E.
Livius in der Roͤmiſchen Hiſtorie, Euſebius
in der Kirchenhiſtorie jezuweilen darauf beziehen,
ſo koͤnnen wir doch nunmehro nicht bis auf die er-
ſte
muͤndliche Nachricht, aus welcher der Ruff
entſtanden, zuruͤckgehen, ſondern muͤſſen es bey
dem, was geſchrieben ſtehet, bewenden laſſen.
Wenn es aber einer aus dem andern ſchreibt,
und dem andern nachſchreibt, und doch nicht
einerley Worte braucht, ſo gehet ebenfals in der
Nachricht von der Geſchichte eine Veraͤnderung
vor, wie bey der muͤndlichen Ausbreitung: da
aber eine ſolche Veraͤnderung der Worte eher
mit Vorbedacht und Vernunfft geſchiehet, ſo laͤſ-
ſet ſich auch eher etwas deutlich davon ſagen: wie
nehmlich ein Nachſager von ſeinem Vorgaͤnger,
wenn er nicht genau bey ſeinen Worten bleibt, un-
vermerckt die Geſchichte aͤndern kan, ohne daß er
Willens iſt, Unwahrheiten zu ſagen. Hat aber
ein Nachſager gar den Vorſatz, die Geſchichte zu
verſtuͤmmeln, und Unwahrheiten zu ſchreiben, ſo
ſiehet jeder, daß ſolches auf unzehlige Weiſe ge-
ſchehen koͤnne, und daß ſich davon keine Regeln
geben laſſen.

§. 22.
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[178/0214] Siebentes Capitel, die Zerruͤttung einer Geſchichte hat, iſt es ſehr ſchwer, etwas deutliches zu ſagen, und deswe- gen auch ſo ſehr nicht noͤthig, weil unſere gelehrte Geſchichtskunde ſich nicht mehr auf muͤndliche Nachrichten, ſondern auf ſchrifftliche Urkunden zu beziehen pflegen: und ſind gleich einige Stuͤcke derſelben aus dem Ruffe genommen, wie ſich z. E. Livius in der Roͤmiſchen Hiſtorie, Euſebius in der Kirchenhiſtorie jezuweilen darauf beziehen, ſo koͤnnen wir doch nunmehro nicht bis auf die er- ſte muͤndliche Nachricht, aus welcher der Ruff entſtanden, zuruͤckgehen, ſondern muͤſſen es bey dem, was geſchrieben ſtehet, bewenden laſſen. Wenn es aber einer aus dem andern ſchreibt, und dem andern nachſchreibt, und doch nicht einerley Worte braucht, ſo gehet ebenfals in der Nachricht von der Geſchichte eine Veraͤnderung vor, wie bey der muͤndlichen Ausbreitung: da aber eine ſolche Veraͤnderung der Worte eher mit Vorbedacht und Vernunfft geſchiehet, ſo laͤſ- ſet ſich auch eher etwas deutlich davon ſagen: wie nehmlich ein Nachſager von ſeinem Vorgaͤnger, wenn er nicht genau bey ſeinen Worten bleibt, un- vermerckt die Geſchichte aͤndern kan, ohne daß er Willens iſt, Unwahrheiten zu ſagen. Hat aber ein Nachſager gar den Vorſatz, die Geſchichte zu verſtuͤmmeln, und Unwahrheiten zu ſchreiben, ſo ſiehet jeder, daß ſolches auf unzehlige Weiſe ge- ſchehen koͤnne, und daß ſich davon keine Regeln geben laſſen. §. 22.

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/214>, abgerufen am 30.04.2024.