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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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reflektirenden Bewußtseyn, wegen der Harmouie des p1c_055.002
Geistes und der Natur, ein Gefühl der geistigen Lust, p1c_055.003
welches das Gefühl des Schönen genannt wird, p1c_055.004
weil es nicht das All der Realitäten idealisch umfaßt, p1c_055.005
sondern nur einen flüchtigen Widerschein von der höhern p1c_055.006
allgemeinen, im Urseyn sich sindenden Harmonie giebt. p1c_055.007
Dinge, deren Beschaffenheit dieses Gefühl des p1c_055.008
Schönen in uns nährt und erweckt, nennt man p1c_055.009
schön.

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Anmerk. 1. Das Gefühl des Schönen ist der p1c_055.011
wahre Nektarkelch der Seligkeit, womit von unsichtbarer p1c_055.012
Hand das höhere Leben gestärkt wird, daß es nicht ermatte p1c_055.013
in diesem ewigen Kampfe mit der Sinnenwelt. Es ist das p1c_055.014
Bewußtseyn des Kunstgeistes, der uns allen beywohnt, von p1c_055.015
unsrer Ueberlegenheit über die Materie, die feste Zuversicht, p1c_055.016
daß das Kunstwerk doch gelingen müsse. Selbst die starre p1c_055.017
todte Außenwelt trägt das Gewand der Schönheit, um p1c_055.018
anzudeuten, daß sie die zurückgelassene Spur des mit Anmuth p1c_055.019
sich bewegenden Schöpfergeistes war. Aber mehr als p1c_055.020
alles erweckt in uns die Empfindungen der höhern Schönheit p1c_055.021
das Anschaun der menschlichen Natur, wenn sie sich p1c_055.022
selbst idealisirt darstellt. Die Ruhe, mit welcher der menschliche p1c_055.023
Heldengeist zwischen zwey Welten, der unsichtbaren p1c_055.024
und sichtbaren, in der Mitte steht, und der letzteren mit p1c_055.025
Aufopferung seines niedern Selbsts Gesetze und Gestalt p1c_055.026
giebt, die Heiligkeit, mit welcher Antigone, die göttliche

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reflektirenden Bewußtseyn, wegen der Harmouie des p1c_055.002
Geistes und der Natur, ein Gefühl der geistigen Lust, p1c_055.003
welches das Gefühl des Schönen genannt wird, p1c_055.004
weil es nicht das All der Realitäten idealisch umfaßt, p1c_055.005
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Schönen in uns nährt und erweckt, nennt man p1c_055.009
schön.

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wahre Nektarkelch der Seligkeit, womit von unsichtbarer p1c_055.012
Hand das höhere Leben gestärkt wird, daß es nicht ermatte p1c_055.013
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Bewußtseyn des Kunstgeistes, der uns allen beywohnt, von p1c_055.015
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todte Außenwelt trägt das Gewand der Schönheit, um p1c_055.018
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sich bewegenden Schöpfergeistes war. Aber mehr als p1c_055.020
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das Anschaun der menschlichen Natur, wenn sie sich p1c_055.022
selbst idealisirt darstellt. Die Ruhe, mit welcher der menschliche p1c_055.023
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[55/0113] p1c_055.001 reflektirenden Bewußtseyn, wegen der Harmouie des p1c_055.002 Geistes und der Natur, ein Gefühl der geistigen Lust, p1c_055.003 welches das Gefühl des Schönen genannt wird, p1c_055.004 weil es nicht das All der Realitäten idealisch umfaßt, p1c_055.005 sondern nur einen flüchtigen Widerschein von der höhern p1c_055.006 allgemeinen, im Urseyn sich sindenden Harmonie giebt. p1c_055.007 Dinge, deren Beschaffenheit dieses Gefühl des p1c_055.008 Schönen in uns nährt und erweckt, nennt man p1c_055.009 schön. p1c_055.010 Anmerk. 1. Das Gefühl des Schönen ist der p1c_055.011 wahre Nektarkelch der Seligkeit, womit von unsichtbarer p1c_055.012 Hand das höhere Leben gestärkt wird, daß es nicht ermatte p1c_055.013 in diesem ewigen Kampfe mit der Sinnenwelt. Es ist das p1c_055.014 Bewußtseyn des Kunstgeistes, der uns allen beywohnt, von p1c_055.015 unsrer Ueberlegenheit über die Materie, die feste Zuversicht, p1c_055.016 daß das Kunstwerk doch gelingen müsse. Selbst die starre p1c_055.017 todte Außenwelt trägt das Gewand der Schönheit, um p1c_055.018 anzudeuten, daß sie die zurückgelassene Spur des mit Anmuth p1c_055.019 sich bewegenden Schöpfergeistes war. Aber mehr als p1c_055.020 alles erweckt in uns die Empfindungen der höhern Schönheit p1c_055.021 das Anschaun der menschlichen Natur, wenn sie sich p1c_055.022 selbst idealisirt darstellt. Die Ruhe, mit welcher der menschliche p1c_055.023 Heldengeist zwischen zwey Welten, der unsichtbaren p1c_055.024 und sichtbaren, in der Mitte steht, und der letzteren mit p1c_055.025 Aufopferung seines niedern Selbsts Gesetze und Gestalt p1c_055.026 giebt, die Heiligkeit, mit welcher Antigone, die göttliche

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/113>, abgerufen am 30.04.2024.