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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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thut die Sentenz am Ende des Trauerspiels gute Wirkung, p1c_302.002
z. B. das Ende des Oedyp. Tyr. - Selbst in den Jdyllen p1c_302.003
der Alten hat sich die Sentenz eingeschlichen, wohin p1c_302.004
sie im Grunde am wenigsten gehört. Allein die Wechselgesänge p1c_302.005
der Hirten (das Wiedergeben, Retributio) veranlassen p1c_302.006
sie, kurze, gedrängte, parallel laufende Ausdrücke zu p1c_302.007
suchen. Jndessen sind sie selten abstrakt. Ab Iove principium, p1c_302.008
Musae, Iovis omnia plena
. - Oft ist es p1c_302.009
blos die Form einer Sentenz: Triste lupus stabulis, maturis p1c_302.010
frugibus imbres, arboribus venti, nobis Amaryllidis p1c_302.011
irae. Virg
. Uebrigens muß man von der Sentenz p1c_302.012
als Figur die eigentliche gnomische Dichtungsart unterscheiden. p1c_302.013
14) Verwandt mit der Sentenz ist das Epiphonema p1c_302.014
oder der Schlußspruch. Eigentlich ist der Kunstgriff p1c_302.015
mit einem kräftigen Gedanken zu schließen mehr rednerisch p1c_302.016
als dichterisch. Die Dichter kultivirter Nazionen brauchen p1c_302.017
diese Figur bey ihren Gedichten, um den Beyfall des Publikums p1c_302.018
zu erhalten, der gegen das Ende am meisten bestimmt p1c_302.019
wird, wie eine Sängerin mit der Cadenz abgeht. p1c_302.020
Man hat viel wider dergleichen Cadenzen in der Musik einzuwenden p1c_302.021
gehabt, und vielleicht eben so viel läßt sich wider p1c_302.022
das Epiphonem im Gedichte einwenden. Homer läßt seine p1c_302.023
Personen selten am Schluß den stärksten Gedanken sagen. p1c_302.024
Zuweilen ist es nothwendig, wie z. B. in der Rede des Priamus p1c_302.025
(s. oben S. 136.). Gewöhnlich wird noch eine ruhige p1c_302.026
Nebenidee hinzugefügt. Il. ph. 113. Odyss. l. 536. Der p1c_302.027
dichterische Effekt muß durchs Ganze gleich vertheilt seyn, p1c_302.028
die Kraft des Geistes mehr ausweiten, als koncentriren.

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thut die Sentenz am Ende des Trauerspiels gute Wirkung, p1c_302.002
z. B. das Ende des Oedyp. Tyr. ─ Selbst in den Jdyllen p1c_302.003
der Alten hat sich die Sentenz eingeschlichen, wohin p1c_302.004
sie im Grunde am wenigsten gehört. Allein die Wechselgesänge p1c_302.005
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Musae, Iovis omnia plena
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blos die Form einer Sentenz: Triste lupus stabulis, maturis p1c_302.010
frugibus imbres, arboribus venti, nobis Amaryllidis p1c_302.011
irae. Virg
. Uebrigens muß man von der Sentenz p1c_302.012
als Figur die eigentliche gnomische Dichtungsart unterscheiden. p1c_302.013
14) Verwandt mit der Sentenz ist das Epiphonema p1c_302.014
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mit einem kräftigen Gedanken zu schließen mehr rednerisch p1c_302.016
als dichterisch. Die Dichter kultivirter Nazionen brauchen p1c_302.017
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Zuweilen ist es nothwendig, wie z. B. in der Rede des Priamus p1c_302.025
(s. oben S. 136.). Gewöhnlich wird noch eine ruhige p1c_302.026
Nebenidee hinzugefügt. Il. φ. 113. Odyss. λ. 536. Der p1c_302.027
dichterische Effekt muß durchs Ganze gleich vertheilt seyn, p1c_302.028
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/360>, abgerufen am 09.05.2024.