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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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ins Plumpe fällt und die natürliche Schaamhaftigkeit p1c_314.002
ganz beleidigt, ist naiv und giebt eine wahrhaft schöne p1c_314.003
Empfindung, die heilig ist, wie alles Jdyllische. Allein die p1c_314.004
Allusionen zeigen von verdorbener Natur. Die Menschheit p1c_314.005
ist dabey im Widerspruche mit sich selbst. Es ist ein Spott p1c_314.006
über unsre eigne Thierheit und zugleich ein Vergnügen an p1c_314.007
derselben. Wir dünken uns, vermöge einer Art erkünstelter p1c_314.008
Schaamhaftigkeit, über den Jnstinkt erhaben, und können p1c_314.009
doch seinen Reitzungen nicht widerstehen. Wir verheimlichen p1c_314.010
unsre Schwäche und halten uns doch gern bey derselben p1c_314.011
auf. Kurz wir sind in einer Stimmung uns selbst zu verachten, p1c_314.012
und diese Stimmung kann nie schön seyn. Hierzu p1c_314.013
kommt, daß wenn die Zuhörer gewöhnt werden Zweydeutigkeiten p1c_314.014
zu suchen, die Sprache ein kakophaton erhält, welches p1c_314.015
sie zu jeder freyern dichterischen Wendung unfähig p1c_314.016
macht. Wenn Ausonius in seinem bekannten Cento nuptialis p1c_314.017
aus Versen des Virgils wahre obscoena zusammensetzt, p1c_314.018
die ins Ekelhafte fallen, (exhalat opaca mephitim p1c_314.019
destillat ab inguine virus
) welcher Dichter kann der p1c_314.020
malae consuetudini widerstehen, qua verba in obscoenum p1c_314.021
intellectum detorquentur
. Schon Cicero bemerkt p1c_314.022
und Quinctilian wiederholt es, daß man sich hüten müsse p1c_314.023
ne obscoenius concurrant litterae. Aus Varros grammatischen p1c_314.024
Untersuchungen sieht man schon, wie tief die p1c_314.025
Sprache der Römer gegen das Ende der Republik zugleich p1c_314.026
mit ihren Sitten gesunken war. Keine neuere Sprache ist p1c_314.027
so reich an aequivocis vocabulis, als die französische. p1c_314.028
Darum ist auch der poetische Geist von ihr gewichen. Auch

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ins Plumpe fällt und die natürliche Schaamhaftigkeit p1c_314.002
ganz beleidigt, ist naiv und giebt eine wahrhaft schöne p1c_314.003
Empfindung, die heilig ist, wie alles Jdyllische. Allein die p1c_314.004
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doch seinen Reitzungen nicht widerstehen. Wir verheimlichen p1c_314.010
unsre Schwäche und halten uns doch gern bey derselben p1c_314.011
auf. Kurz wir sind in einer Stimmung uns selbst zu verachten, p1c_314.012
und diese Stimmung kann nie schön seyn. Hierzu p1c_314.013
kommt, daß wenn die Zuhörer gewöhnt werden Zweydeutigkeiten p1c_314.014
zu suchen, die Sprache ein κακοφατον erhält, welches p1c_314.015
sie zu jeder freyern dichterischen Wendung unfähig p1c_314.016
macht. Wenn Ausonius in seinem bekannten Cento nuptialis p1c_314.017
aus Versen des Virgils wahre obscoena zusammensetzt, p1c_314.018
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destillat ab inguine virus
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/372>, abgerufen am 09.05.2024.