Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_462.001
allein Werth giebt, (gleichwie die Moralität im Augenblick p1c_462.002
des Handelns,) so ist es noch weit mehr Bedürfniß p1c_462.003
der Menschheit überhaupt, die Weltbegebenheiten im p1c_462.004
Ganzen nicht historisch und physisch zu erforschen, denn p1c_462.005
dann verwandelt sich die Schöpfung in ein leeres Gerippe, p1c_462.006
sondern poetisch unter einer religiösen Ansicht des p1c_462.007
Glaubens zu betrachten. Nur allein dadurch bekömmt die p1c_462.008
Geschichte einen Werth, eine Hoheit, die sie über den p1c_462.009
zufälligen wandelbaren Charakter der Zeitlichkeit erhebt. p1c_462.010
Wer es wagt, mit menschlichen Augen des Verstandes die p1c_462.011
Begebenheiten des irdischen Daseyns umfassen zu wollen, der p1c_462.012
wird für diese Keckheit mit einer Gemüthsstimmung gestraft, p1c_462.013
welcher er gewiß gern überhoben wäre. Er muß ausrufen, p1c_462.014
wie der Prediger Salomonis: "Und des Volks, das vor mir p1c_462.015
ging, war kein Ende, und deß das nachging. Und wurden p1c_462.016
doch nicht froh des Lebens. Denn alles ist eitel und Jammer. p1c_462.017
Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur p1c_462.018
Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing. p1c_462.019
Alle Wasser laufen ins Meer, noch wird das Meer nicht p1c_462.020
völler. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder p1c_462.021
hin." Mag für einen Augenblick der weltliche Glanz p1c_462.022
der Geschichte blendend seyn. Mag es selbst eine ästhetische p1c_462.023
Empfindung von Größe geben, die Völkerschaften in ewigem p1c_462.024
Kreislanfe einander verschlingen zu sehen. Das planlose p1c_462.025
ewige Einerley ermüdet. Die Empfindung der Größe p1c_462.026
ist eine unvollendete ästhetische Empfindung, die nichts p1c_462.027
als Gleichgültigkeit zurückläßt, wenn nicht das Erhabene p1c_462.028
dazu kommt. Jedes Große ist wieder klein. Denn es

p1c_462.001
allein Werth giebt, (gleichwie die Moralität im Augenblick p1c_462.002
des Handelns,) so ist es noch weit mehr Bedürfniß p1c_462.003
der Menschheit überhaupt, die Weltbegebenheiten im p1c_462.004
Ganzen nicht historisch und physisch zu erforschen, denn p1c_462.005
dann verwandelt sich die Schöpfung in ein leeres Gerippe, p1c_462.006
sondern poetisch unter einer religiösen Ansicht des p1c_462.007
Glaubens zu betrachten. Nur allein dadurch bekömmt die p1c_462.008
Geschichte einen Werth, eine Hoheit, die sie über den p1c_462.009
zufälligen wandelbaren Charakter der Zeitlichkeit erhebt. p1c_462.010
Wer es wagt, mit menschlichen Augen des Verstandes die p1c_462.011
Begebenheiten des irdischen Daseyns umfassen zu wollen, der p1c_462.012
wird für diese Keckheit mit einer Gemüthsstimmung gestraft, p1c_462.013
welcher er gewiß gern überhoben wäre. Er muß ausrufen, p1c_462.014
wie der Prediger Salomonis: „Und des Volks, das vor mir p1c_462.015
ging, war kein Ende, und deß das nachging. Und wurden p1c_462.016
doch nicht froh des Lebens. Denn alles ist eitel und Jammer. p1c_462.017
Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur p1c_462.018
Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing. p1c_462.019
Alle Wasser laufen ins Meer, noch wird das Meer nicht p1c_462.020
völler. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder p1c_462.021
hin.“ Mag für einen Augenblick der weltliche Glanz p1c_462.022
der Geschichte blendend seyn. Mag es selbst eine ästhetische p1c_462.023
Empfindung von Größe geben, die Völkerschaften in ewigem p1c_462.024
Kreislanfe einander verschlingen zu sehen. Das planlose p1c_462.025
ewige Einerley ermüdet. Die Empfindung der Größe p1c_462.026
ist eine unvollendete ästhetische Empfindung, die nichts p1c_462.027
als Gleichgültigkeit zurückläßt, wenn nicht das Erhabene p1c_462.028
dazu kommt. Jedes Große ist wieder klein. Denn es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0520" n="462"/><lb n="p1c_462.001"/>
allein Werth giebt, (gleichwie die <hi rendition="#g">Moralität</hi> im Augenblick <lb n="p1c_462.002"/>
des <hi rendition="#g">Handelns,</hi>) so ist es noch weit mehr Bedürfniß <lb n="p1c_462.003"/>
der Menschheit überhaupt, die <hi rendition="#g">Weltbegebenheiten</hi> im <lb n="p1c_462.004"/>
Ganzen nicht <hi rendition="#g">historisch</hi> und physisch zu erforschen, denn <lb n="p1c_462.005"/>
dann verwandelt sich die Schöpfung in ein leeres Gerippe, <lb n="p1c_462.006"/>
sondern <hi rendition="#g">poetisch</hi> unter einer <hi rendition="#g">religiösen</hi> Ansicht des <lb n="p1c_462.007"/>
Glaubens zu betrachten. Nur allein dadurch bekömmt die <lb n="p1c_462.008"/> <hi rendition="#g">Geschichte</hi> einen Werth, eine <hi rendition="#g">Hoheit,</hi> die sie über den <lb n="p1c_462.009"/>
zufälligen wandelbaren Charakter der Zeitlichkeit erhebt. <lb n="p1c_462.010"/>
Wer es wagt, mit menschlichen Augen des Verstandes die <lb n="p1c_462.011"/>
Begebenheiten des irdischen Daseyns umfassen zu wollen, der <lb n="p1c_462.012"/>
wird für diese Keckheit mit einer Gemüthsstimmung gestraft, <lb n="p1c_462.013"/>
welcher er gewiß gern überhoben wäre. Er muß ausrufen, <lb n="p1c_462.014"/>
wie der Prediger Salomonis: &#x201E;Und des Volks, das vor mir <lb n="p1c_462.015"/>
ging, war kein Ende, und deß das nachging. Und wurden <lb n="p1c_462.016"/>
doch nicht froh des Lebens. Denn alles ist eitel und Jammer. <lb n="p1c_462.017"/>
Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur <lb n="p1c_462.018"/>
Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing. <lb n="p1c_462.019"/>
Alle Wasser laufen ins Meer, noch wird das Meer nicht <lb n="p1c_462.020"/>
völler. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder <lb n="p1c_462.021"/>
hin.&#x201C; Mag für einen Augenblick der <hi rendition="#g">weltliche</hi> Glanz <lb n="p1c_462.022"/>
der Geschichte blendend seyn. Mag es selbst eine ästhetische <lb n="p1c_462.023"/>
Empfindung von <hi rendition="#g">Größe</hi> geben, die Völkerschaften in ewigem <lb n="p1c_462.024"/>
Kreislanfe einander verschlingen zu sehen. Das planlose <lb n="p1c_462.025"/>
ewige Einerley ermüdet. Die Empfindung der <hi rendition="#g">Größe</hi> <lb n="p1c_462.026"/>
ist eine unvollendete <hi rendition="#g">ästhetische</hi> Empfindung, die nichts <lb n="p1c_462.027"/>
als Gleichgültigkeit zurückläßt, wenn nicht das <hi rendition="#g">Erhabene</hi> <lb n="p1c_462.028"/>
dazu kommt. Jedes <hi rendition="#g">Große</hi> ist wieder <hi rendition="#g">klein.</hi> Denn es
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[462/0520] p1c_462.001 allein Werth giebt, (gleichwie die Moralität im Augenblick p1c_462.002 des Handelns,) so ist es noch weit mehr Bedürfniß p1c_462.003 der Menschheit überhaupt, die Weltbegebenheiten im p1c_462.004 Ganzen nicht historisch und physisch zu erforschen, denn p1c_462.005 dann verwandelt sich die Schöpfung in ein leeres Gerippe, p1c_462.006 sondern poetisch unter einer religiösen Ansicht des p1c_462.007 Glaubens zu betrachten. Nur allein dadurch bekömmt die p1c_462.008 Geschichte einen Werth, eine Hoheit, die sie über den p1c_462.009 zufälligen wandelbaren Charakter der Zeitlichkeit erhebt. p1c_462.010 Wer es wagt, mit menschlichen Augen des Verstandes die p1c_462.011 Begebenheiten des irdischen Daseyns umfassen zu wollen, der p1c_462.012 wird für diese Keckheit mit einer Gemüthsstimmung gestraft, p1c_462.013 welcher er gewiß gern überhoben wäre. Er muß ausrufen, p1c_462.014 wie der Prediger Salomonis: „Und des Volks, das vor mir p1c_462.015 ging, war kein Ende, und deß das nachging. Und wurden p1c_462.016 doch nicht froh des Lebens. Denn alles ist eitel und Jammer. p1c_462.017 Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur p1c_462.018 Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing. p1c_462.019 Alle Wasser laufen ins Meer, noch wird das Meer nicht p1c_462.020 völler. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder p1c_462.021 hin.“ Mag für einen Augenblick der weltliche Glanz p1c_462.022 der Geschichte blendend seyn. Mag es selbst eine ästhetische p1c_462.023 Empfindung von Größe geben, die Völkerschaften in ewigem p1c_462.024 Kreislanfe einander verschlingen zu sehen. Das planlose p1c_462.025 ewige Einerley ermüdet. Die Empfindung der Größe p1c_462.026 ist eine unvollendete ästhetische Empfindung, die nichts p1c_462.027 als Gleichgültigkeit zurückläßt, wenn nicht das Erhabene p1c_462.028 dazu kommt. Jedes Große ist wieder klein. Denn es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/520
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/520>, abgerufen am 27.04.2024.