Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_466.001
genug, das Erhabene darinnen zu fassen. Sie gehören zu p1c_466.002
den Berufenen, aber nicht zu den Eingeweihten. Die Mystik p1c_466.003
der Eingeweihten erfordert aber auch keinen besondern p1c_466.004
Sinn, enthält kein besonderes Geheimniß, dessen nicht alle p1c_466.005
Menschen fähig wären. Sie ist die natürliche Mystik, welche p1c_466.006
hohe Seelen von gemeinen, denkende von nichtdenkenden, p1c_466.007
begeisterte von sinnlichen Menschen scheidet. Mag die p1c_466.008
menschliche sogenannte Weltgeschichte die unbekannten p1c_466.009
Größen, das x in die Historie einführen. Sie thut p1c_466.010
wohl daran, in so fern sie menschlich ist, und menschlich p1c_466.011
rechnet. Aber wo ihre unbekannten Länder angehen, p1c_466.012
da herrscht der religiöse Glaube. Wo die historischen p1c_466.013
Denkmähler aufhören, beginnen die poetischen, p1c_466.014
welche bis zur Wiege der Sprache selbst hinauf gehen. p1c_466.015
"Der Donner verhallt, sagt Klopstock, der Sturm braust p1c_466.016
weg, das Säuseln verweht. Mit langen Jahrhunderten p1c_466.017
strömt die Sprache der Menschen fort, und verkündet jeden p1c_466.018
Augenblick, was Jehova geredet hat." - Die Sprache p1c_466.019
selbst, da sie nicht als ein Werk der Ueberlegung oder menschlichen p1c_466.020
Uebereinkunft angesehen werden kann, da sie über den p1c_466.021
Verstand weit hinaus geht, ist eine poetische Organisation p1c_466.022
des Geistes, welche als ein Wunder angesehen werden p1c_466.023
muß. Auch viele heidnische Philosophen, wie wir aus dem p1c_466.024
Cratylus des Plato lernen, behaupteten, es gäbe gewisse p1c_466.025
Urworte, von mehr als menschlicher Erfindung dem Sterblichen p1c_466.026
aus dem Quelle der Wahrheit mitgetheilt. Sprache, p1c_466.027
Poesie und Offenbarungstraditionen sind also Dinge, welche p1c_466.028
das Schicksal des Menschengeschlechts nach einem höhern

p1c_466.001
genug, das Erhabene darinnen zu fassen. Sie gehören zu p1c_466.002
den Berufenen, aber nicht zu den Eingeweihten. Die Mystik p1c_466.003
der Eingeweihten erfordert aber auch keinen besondern p1c_466.004
Sinn, enthält kein besonderes Geheimniß, dessen nicht alle p1c_466.005
Menschen fähig wären. Sie ist die natürliche Mystik, welche p1c_466.006
hohe Seelen von gemeinen, denkende von nichtdenkenden, p1c_466.007
begeisterte von sinnlichen Menschen scheidet. Mag die p1c_466.008
menschliche sogenannte Weltgeschichte die unbekannten p1c_466.009
Größen, das x in die Historie einführen. Sie thut p1c_466.010
wohl daran, in so fern sie menschlich ist, und menschlich p1c_466.011
rechnet. Aber wo ihre unbekannten Länder angehen, p1c_466.012
da herrscht der religiöse Glaube. Wo die historischen p1c_466.013
Denkmähler aufhören, beginnen die poetischen, p1c_466.014
welche bis zur Wiege der Sprache selbst hinauf gehen. p1c_466.015
„Der Donner verhallt, sagt Klopstock, der Sturm braust p1c_466.016
weg, das Säuseln verweht. Mit langen Jahrhunderten p1c_466.017
strömt die Sprache der Menschen fort, und verkündet jeden p1c_466.018
Augenblick, was Jehova geredet hat.“ ─ Die Sprache p1c_466.019
selbst, da sie nicht als ein Werk der Ueberlegung oder menschlichen p1c_466.020
Uebereinkunft angesehen werden kann, da sie über den p1c_466.021
Verstand weit hinaus geht, ist eine poetische Organisation p1c_466.022
des Geistes, welche als ein Wunder angesehen werden p1c_466.023
muß. Auch viele heidnische Philosophen, wie wir aus dem p1c_466.024
Cratylus des Plato lernen, behaupteten, es gäbe gewisse p1c_466.025
Urworte, von mehr als menschlicher Erfindung dem Sterblichen p1c_466.026
aus dem Quelle der Wahrheit mitgetheilt. Sprache, p1c_466.027
Poesie und Offenbarungstraditionen sind also Dinge, welche p1c_466.028
das Schicksal des Menschengeschlechts nach einem höhern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0524" n="466"/><lb n="p1c_466.001"/>
genug, das Erhabene darinnen zu fassen. Sie gehören zu <lb n="p1c_466.002"/>
den Berufenen, aber nicht zu den Eingeweihten. Die Mystik <lb n="p1c_466.003"/>
der Eingeweihten erfordert aber auch keinen besondern <lb n="p1c_466.004"/>
Sinn, enthält kein besonderes Geheimniß, dessen nicht alle <lb n="p1c_466.005"/>
Menschen fähig wären. Sie ist die natürliche Mystik, welche <lb n="p1c_466.006"/>
hohe Seelen von gemeinen, denkende von nichtdenkenden, <lb n="p1c_466.007"/>
begeisterte von sinnlichen Menschen scheidet. Mag die <lb n="p1c_466.008"/> <hi rendition="#g">menschliche</hi> sogenannte <hi rendition="#g">Weltgeschichte</hi> die unbekannten <lb n="p1c_466.009"/>
Größen, das <hi rendition="#aq">x</hi> in die Historie einführen. Sie thut <lb n="p1c_466.010"/>
wohl daran, in so fern sie <hi rendition="#g">menschlich</hi> ist, und <hi rendition="#g">menschlich</hi> <lb n="p1c_466.011"/>
rechnet. Aber wo ihre unbekannten Länder angehen, <lb n="p1c_466.012"/>
da herrscht der <hi rendition="#g">religiöse Glaube.</hi> Wo die <hi rendition="#g">historischen</hi> <lb n="p1c_466.013"/>
Denkmähler aufhören, beginnen die <hi rendition="#g">poetischen,</hi> <lb n="p1c_466.014"/>
welche bis zur Wiege der <hi rendition="#g">Sprache</hi> selbst hinauf gehen. <lb n="p1c_466.015"/>
&#x201E;Der Donner verhallt, sagt Klopstock, der Sturm braust <lb n="p1c_466.016"/>
weg, das Säuseln verweht. Mit langen Jahrhunderten <lb n="p1c_466.017"/>
strömt die Sprache der Menschen fort, und verkündet jeden <lb n="p1c_466.018"/>
Augenblick, was Jehova geredet hat.&#x201C; &#x2500; Die <hi rendition="#g">Sprache</hi> <lb n="p1c_466.019"/>
selbst, da sie nicht als ein Werk der Ueberlegung oder menschlichen <lb n="p1c_466.020"/>
Uebereinkunft angesehen werden kann, da sie über den <lb n="p1c_466.021"/>
Verstand weit hinaus geht, ist eine <hi rendition="#g">poetische</hi> Organisation <lb n="p1c_466.022"/>
des Geistes, welche als ein Wunder angesehen werden <lb n="p1c_466.023"/>
muß. Auch viele heidnische Philosophen, wie wir aus dem <lb n="p1c_466.024"/>
Cratylus des Plato lernen, behaupteten, es gäbe gewisse <lb n="p1c_466.025"/>
Urworte, von mehr als menschlicher Erfindung dem Sterblichen <lb n="p1c_466.026"/>
aus dem Quelle der Wahrheit mitgetheilt. Sprache, <lb n="p1c_466.027"/>
Poesie und Offenbarungstraditionen sind also Dinge, welche <lb n="p1c_466.028"/>
das Schicksal des Menschengeschlechts nach einem höhern
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[466/0524] p1c_466.001 genug, das Erhabene darinnen zu fassen. Sie gehören zu p1c_466.002 den Berufenen, aber nicht zu den Eingeweihten. Die Mystik p1c_466.003 der Eingeweihten erfordert aber auch keinen besondern p1c_466.004 Sinn, enthält kein besonderes Geheimniß, dessen nicht alle p1c_466.005 Menschen fähig wären. Sie ist die natürliche Mystik, welche p1c_466.006 hohe Seelen von gemeinen, denkende von nichtdenkenden, p1c_466.007 begeisterte von sinnlichen Menschen scheidet. Mag die p1c_466.008 menschliche sogenannte Weltgeschichte die unbekannten p1c_466.009 Größen, das x in die Historie einführen. Sie thut p1c_466.010 wohl daran, in so fern sie menschlich ist, und menschlich p1c_466.011 rechnet. Aber wo ihre unbekannten Länder angehen, p1c_466.012 da herrscht der religiöse Glaube. Wo die historischen p1c_466.013 Denkmähler aufhören, beginnen die poetischen, p1c_466.014 welche bis zur Wiege der Sprache selbst hinauf gehen. p1c_466.015 „Der Donner verhallt, sagt Klopstock, der Sturm braust p1c_466.016 weg, das Säuseln verweht. Mit langen Jahrhunderten p1c_466.017 strömt die Sprache der Menschen fort, und verkündet jeden p1c_466.018 Augenblick, was Jehova geredet hat.“ ─ Die Sprache p1c_466.019 selbst, da sie nicht als ein Werk der Ueberlegung oder menschlichen p1c_466.020 Uebereinkunft angesehen werden kann, da sie über den p1c_466.021 Verstand weit hinaus geht, ist eine poetische Organisation p1c_466.022 des Geistes, welche als ein Wunder angesehen werden p1c_466.023 muß. Auch viele heidnische Philosophen, wie wir aus dem p1c_466.024 Cratylus des Plato lernen, behaupteten, es gäbe gewisse p1c_466.025 Urworte, von mehr als menschlicher Erfindung dem Sterblichen p1c_466.026 aus dem Quelle der Wahrheit mitgetheilt. Sprache, p1c_466.027 Poesie und Offenbarungstraditionen sind also Dinge, welche p1c_466.028 das Schicksal des Menschengeschlechts nach einem höhern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/524
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/524>, abgerufen am 27.04.2024.