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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Einkleidung, besteht aber dem Hauptinhalt nach in einem p1c_478.002
lyrischen Wechselgesang. Katull giebt natürlich den Jünglingen p1c_478.003
andre Worte zum Lobe Hymens in den Mund, als p1c_478.004
den Mädchen. Nur in Gedichten, die ganz für die Musik p1c_478.005
gemacht sind, kann der Dichter vielleicht Stimmen abwechseln p1c_478.006
lassen, die nur musikalisch verschieden sind, z. B. in p1c_478.007
Kantaten. Doch auch hier wird die Baßstimme einen andern p1c_478.008
poetischen Charakter haben, als der Diskant. Jn den p1c_478.009
Psalmen wechseln oft Chöre ab, ohne daß man einen durchgeführten p1c_478.010
Unterschied in den Gedanken bemerken könnte. p1c_478.011
Allein auch diese Gedichte sind wahrscheinlich zu einem gottesdienstlichen p1c_478.012
musikalischen Endzweck verfertigt worden. p1c_478.013
Jn lyrischen Gedichten, die unabhängig von der Musik für p1c_478.014
sich selbst bestehen sollen, wäre es Fehler vom Dichter, der, p1c_478.015
als denkendes Wesen, seine Gedankenreihe logisch bestimmen p1c_478.016
muß, wenn er sich ganz ohne Grund mehrere Redende p1c_478.017
dächte. Wir wollen daher den Ausdruck: dramatisirende p1c_478.018
Dichtungsarten überall brauchen, wo auch ohne p1c_478.019
Handlung mehrere Redende abwechseln, weil dann doch p1c_478.020
auch eine Art historischer Sinnesverschiedenheit statt findet. p1c_478.021
So giebt es dramatisirte Oden, Jdyllen u. s. w. p1c_478.022
Von der dramatisirenden Poesie wollen wir dagegen p1c_478.023
die dramatische Poesie und das eigentliche Drama, p1c_478.024
wo wirkliche Handlung statt findet, ganz unterscheiden. p1c_478.025
Das Dramatisirte ist ein allgemeiner Gattungsbegriff p1c_478.026
vom Dramatischen. Die dramatisirende historische p1c_478.027
Poesie heißt dramatisch. Und das eigentliche p1c_478.028
Drama, eine vollkommne für das Schauspiel gedichtete

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Einkleidung, besteht aber dem Hauptinhalt nach in einem p1c_478.002
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[478/0536] p1c_478.001 Einkleidung, besteht aber dem Hauptinhalt nach in einem p1c_478.002 lyrischen Wechselgesang. Katull giebt natürlich den Jünglingen p1c_478.003 andre Worte zum Lobe Hymens in den Mund, als p1c_478.004 den Mädchen. Nur in Gedichten, die ganz für die Musik p1c_478.005 gemacht sind, kann der Dichter vielleicht Stimmen abwechseln p1c_478.006 lassen, die nur musikalisch verschieden sind, z. B. in p1c_478.007 Kantaten. Doch auch hier wird die Baßstimme einen andern p1c_478.008 poetischen Charakter haben, als der Diskant. Jn den p1c_478.009 Psalmen wechseln oft Chöre ab, ohne daß man einen durchgeführten p1c_478.010 Unterschied in den Gedanken bemerken könnte. p1c_478.011 Allein auch diese Gedichte sind wahrscheinlich zu einem gottesdienstlichen p1c_478.012 musikalischen Endzweck verfertigt worden. p1c_478.013 Jn lyrischen Gedichten, die unabhängig von der Musik für p1c_478.014 sich selbst bestehen sollen, wäre es Fehler vom Dichter, der, p1c_478.015 als denkendes Wesen, seine Gedankenreihe logisch bestimmen p1c_478.016 muß, wenn er sich ganz ohne Grund mehrere Redende p1c_478.017 dächte. Wir wollen daher den Ausdruck: dramatisirende p1c_478.018 Dichtungsarten überall brauchen, wo auch ohne p1c_478.019 Handlung mehrere Redende abwechseln, weil dann doch p1c_478.020 auch eine Art historischer Sinnesverschiedenheit statt findet. p1c_478.021 So giebt es dramatisirte Oden, Jdyllen u. s. w. p1c_478.022 Von der dramatisirenden Poesie wollen wir dagegen p1c_478.023 die dramatische Poesie und das eigentliche Drama, p1c_478.024 wo wirkliche Handlung statt findet, ganz unterscheiden. p1c_478.025 Das Dramatisirte ist ein allgemeiner Gattungsbegriff p1c_478.026 vom Dramatischen. Die dramatisirende historische p1c_478.027 Poesie heißt dramatisch. Und das eigentliche p1c_478.028 Drama, eine vollkommne für das Schauspiel gedichtete

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/536>, abgerufen am 27.04.2024.