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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Anmerk. Man hat oft über die römischen Rechtsgelehrten p1c_037.002
gespottet, deren Definitionen nur Etymologieen p1c_037.003
sind. Jndeß ist diese stoische Verfahrungsart der p1c_037.004
wahre Weg zur Philosophie. Die philosophische Analysis p1c_037.005
wird nie richtiger deduciren, als wenn sie, wie p1c_037.006
Sokrates im Cratylus des Plato, grammatisch derivirt. p1c_037.007
Der Sprachgebrauch ist nicht in allen Dingen p1c_037.008
ein willkührlicher Tyrann. Er wird als eine nothwendige p1c_037.009
Synthese durch die Poesie des menschlichen Geistes geschaffen, p1c_037.010
die alles Wahre hervorbringt, und die Reflexionen p1c_037.011
der Philosophie werden erst dann wahr, wenn sie mit ihm p1c_037.012
zusammentreffen. Schön stammt nach Wachter von p1c_037.013
scheinen, d. i. glänzen. Nun glänzt nichts, was nicht p1c_037.014
angeschaut wird. Was angeschaut wird, ist nicht mehr die p1c_037.015
Sache, das Urseyn, sondern eine Erscheinung, ein p1c_037.016
Abglanz, ein Widerstrahl der Sache. Wenn wir p1c_037.017
nun annehmen, daß das Jdeale in dem Wesen des schöpferischen p1c_037.018
Geistes verborgen liege, nie, so viel man darnach p1c_037.019
strebt, befriedigend angeschaut und hervorgebracht werden p1c_037.020
könne, so wird man immer nur einen schwächern oder stärkern p1c_037.021
Abglanz des Jdealen erreichen, welcher das Schöne p1c_037.022
heißt. Die freye Kunst, das Streben nach dem Jdealen, p1c_037.023
die Phantasie bringt also eigentlich nie das Jdeale p1c_037.024
hervor, wiewohl dies ihr letztes Ziel ist, sondern allein das p1c_037.025
Schöne. Das Schöne ist demnach die Materie der p1c_037.026
freyen Kunst und der Poesie. Das Jdeale ihr unerreichbares p1c_037.027
Ziel. Man könnte nach dieser Behauptung einwenden, p1c_037.028
daß der Geist nach etwas Unmöglichem oder

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/95>, abgerufen am 02.05.2024.