Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_040.001
auch ausgedrückt sey, noch ein höheres praktisches p1c_040.002
Grundgesetz voraus, das nicht nur die Handlungsweise p1c_040.003
negativ
beschränke und bestimme, sondern positiv überhaupt p1c_040.004
das Handeln gebiete. Mithin ist der erste Widerspruch p1c_040.005
dargethan. Diese Formel, welche ein bloßes p1c_040.006
Sittengesetz ist, mithin ein höheres praktisches Grundgesetz p1c_040.007
voraussetzt, ist also nicht selbst das Grundgesetz, für p1c_040.008
welches es gelten will. Wollte man vorschützen, daß der p1c_040.009
Mensch lebe und wolle und handle, sey ihm durch p1c_040.010
den Naturinstinkt gegeben, so antworte ich, daß er mit p1c_040.011
dem Bewußtseyn der Vernunftgesetzgebung auch als frey p1c_040.012
von dem Naturinstinkt angesehen werden müsse, welches p1c_040.013
Kant selbst behauptet. Jst er frey, so hört aller Bestimmungsgrund p1c_040.014
zum Leben durch die Naturtriebe auf. Und p1c_040.015
es muß ihm ein vernünftiger Bestimmungsgrund gegeben p1c_040.016
werden, nicht nur, wie er wolle und handle, d. h. p1c_040.017
lebe, sondern überhaupt auch dazu, daß er wolle und p1c_040.018
handle, d. h. lebe. Es muß also dem, der von den p1c_040.019
Banden des niedern Lebens befreyt ist, ein Bestimmungsgrund p1c_040.020
zum höhern Leben gegeben werden. Dieser Bestimmungsgrund p1c_040.021
kann keine nur beschränkende Form p1c_040.022
des Willens seyn, die der Wille nicht beleidigen p1c_040.023
darf. Das Kantische Gesetz verbietet alle subjektiven p1c_040.024
Maximen, sie verlangt also nichts, als eine formelle p1c_040.025
höchste Jdentität der Vernunft in dem Reiche vernunftbegabter p1c_040.026
Wesen. Jndem sie alle subjektiven Maximen verbietet, p1c_040.027
verbietet sie das niedere Leben, aber sie gebietet p1c_040.028
kein höheres. Jst das Kantische Gesetz

p1c_040.001
auch ausgedrückt sey, noch ein höheres praktisches p1c_040.002
Grundgesetz voraus, das nicht nur die Handlungsweise p1c_040.003
negativ
beschränke und bestimme, sondern positiv überhaupt p1c_040.004
das Handeln gebiete. Mithin ist der erste Widerspruch p1c_040.005
dargethan. Diese Formel, welche ein bloßes p1c_040.006
Sittengesetz ist, mithin ein höheres praktisches Grundgesetz p1c_040.007
voraussetzt, ist also nicht selbst das Grundgesetz, für p1c_040.008
welches es gelten will. Wollte man vorschützen, daß der p1c_040.009
Mensch lebe und wolle und handle, sey ihm durch p1c_040.010
den Naturinstinkt gegeben, so antworte ich, daß er mit p1c_040.011
dem Bewußtseyn der Vernunftgesetzgebung auch als frey p1c_040.012
von dem Naturinstinkt angesehen werden müsse, welches p1c_040.013
Kant selbst behauptet. Jst er frey, so hört aller Bestimmungsgrund p1c_040.014
zum Leben durch die Naturtriebe auf. Und p1c_040.015
es muß ihm ein vernünftiger Bestimmungsgrund gegeben p1c_040.016
werden, nicht nur, wie er wolle und handle, d. h. p1c_040.017
lebe, sondern überhaupt auch dazu, daß er wolle und p1c_040.018
handle, d. h. lebe. Es muß also dem, der von den p1c_040.019
Banden des niedern Lebens befreyt ist, ein Bestimmungsgrund p1c_040.020
zum höhern Leben gegeben werden. Dieser Bestimmungsgrund p1c_040.021
kann keine nur beschränkende Form p1c_040.022
des Willens seyn, die der Wille nicht beleidigen p1c_040.023
darf. Das Kantische Gesetz verbietet alle subjektiven p1c_040.024
Maximen, sie verlangt also nichts, als eine formelle p1c_040.025
höchste Jdentität der Vernunft in dem Reiche vernunftbegabter p1c_040.026
Wesen. Jndem sie alle subjektiven Maximen verbietet, p1c_040.027
verbietet sie das niedere Leben, aber sie gebietet p1c_040.028
kein höheres. Jst das Kantische Gesetz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0098" n="40"/><lb n="p1c_040.001"/>
auch ausgedrückt sey, noch ein höheres <hi rendition="#g">praktisches</hi> <lb n="p1c_040.002"/>
Grundgesetz voraus, das nicht nur die <hi rendition="#g">Handlungsweise <lb n="p1c_040.003"/>
negativ</hi> beschränke und bestimme, sondern <hi rendition="#g">positiv</hi> überhaupt <lb n="p1c_040.004"/>
das <hi rendition="#g">Handeln</hi> gebiete. Mithin ist der erste Widerspruch <lb n="p1c_040.005"/>
dargethan. Diese Formel, welche ein bloßes <lb n="p1c_040.006"/>
Sittengesetz ist, mithin ein höheres praktisches Grundgesetz <lb n="p1c_040.007"/>
voraussetzt, ist also nicht selbst das <hi rendition="#g">Grundgesetz,</hi> für <lb n="p1c_040.008"/>
welches es gelten will. Wollte man vorschützen, daß der <lb n="p1c_040.009"/>
Mensch <hi rendition="#g">lebe</hi> und <hi rendition="#g">wolle</hi> und <hi rendition="#g">handle,</hi> sey ihm durch <lb n="p1c_040.010"/>
den Naturinstinkt gegeben, so antworte ich, daß er mit <lb n="p1c_040.011"/>
dem Bewußtseyn der Vernunftgesetzgebung auch als <hi rendition="#g">frey</hi> <lb n="p1c_040.012"/>
von dem Naturinstinkt angesehen werden müsse, welches <lb n="p1c_040.013"/>
Kant selbst behauptet. Jst er <hi rendition="#g">frey,</hi> so hört aller Bestimmungsgrund <lb n="p1c_040.014"/>
zum <hi rendition="#g">Leben</hi> durch die Naturtriebe auf. Und <lb n="p1c_040.015"/>
es muß ihm ein vernünftiger Bestimmungsgrund gegeben <lb n="p1c_040.016"/>
werden, nicht nur, <hi rendition="#g">wie</hi> er <hi rendition="#g">wolle</hi> und <hi rendition="#g">handle,</hi> d. h. <lb n="p1c_040.017"/> <hi rendition="#g">lebe,</hi> sondern überhaupt auch dazu, <hi rendition="#g">daß</hi> er <hi rendition="#g">wolle</hi> und <lb n="p1c_040.018"/> <hi rendition="#g">handle,</hi> d. h. <hi rendition="#g">lebe.</hi> Es muß also dem, der von den <lb n="p1c_040.019"/>
Banden des <hi rendition="#g">niedern</hi> Lebens befreyt ist, ein Bestimmungsgrund <lb n="p1c_040.020"/>
zum <hi rendition="#g">höhern</hi> Leben gegeben werden. Dieser Bestimmungsgrund <lb n="p1c_040.021"/>
kann keine <hi rendition="#g">nur beschränkende Form</hi> <lb n="p1c_040.022"/>
des <hi rendition="#g">Willens</hi> seyn, die der <hi rendition="#g">Wille</hi> nicht <hi rendition="#g">beleidigen</hi> <lb n="p1c_040.023"/>
darf. Das <hi rendition="#g">Kantische Gesetz verbietet</hi> alle subjektiven <lb n="p1c_040.024"/>
Maximen, sie verlangt also nichts, als eine formelle <lb n="p1c_040.025"/>
höchste <hi rendition="#g">Jdentität</hi> der Vernunft in dem Reiche vernunftbegabter <lb n="p1c_040.026"/>
Wesen. Jndem sie alle subjektiven Maximen verbietet, <lb n="p1c_040.027"/>
verbietet sie das <hi rendition="#g">niedere</hi> Leben, aber sie <hi rendition="#g">gebietet</hi> <lb n="p1c_040.028"/>
kein <hi rendition="#g">höheres.</hi> Jst das <hi rendition="#g">Kantische Gesetz</hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0098] p1c_040.001 auch ausgedrückt sey, noch ein höheres praktisches p1c_040.002 Grundgesetz voraus, das nicht nur die Handlungsweise p1c_040.003 negativ beschränke und bestimme, sondern positiv überhaupt p1c_040.004 das Handeln gebiete. Mithin ist der erste Widerspruch p1c_040.005 dargethan. Diese Formel, welche ein bloßes p1c_040.006 Sittengesetz ist, mithin ein höheres praktisches Grundgesetz p1c_040.007 voraussetzt, ist also nicht selbst das Grundgesetz, für p1c_040.008 welches es gelten will. Wollte man vorschützen, daß der p1c_040.009 Mensch lebe und wolle und handle, sey ihm durch p1c_040.010 den Naturinstinkt gegeben, so antworte ich, daß er mit p1c_040.011 dem Bewußtseyn der Vernunftgesetzgebung auch als frey p1c_040.012 von dem Naturinstinkt angesehen werden müsse, welches p1c_040.013 Kant selbst behauptet. Jst er frey, so hört aller Bestimmungsgrund p1c_040.014 zum Leben durch die Naturtriebe auf. Und p1c_040.015 es muß ihm ein vernünftiger Bestimmungsgrund gegeben p1c_040.016 werden, nicht nur, wie er wolle und handle, d. h. p1c_040.017 lebe, sondern überhaupt auch dazu, daß er wolle und p1c_040.018 handle, d. h. lebe. Es muß also dem, der von den p1c_040.019 Banden des niedern Lebens befreyt ist, ein Bestimmungsgrund p1c_040.020 zum höhern Leben gegeben werden. Dieser Bestimmungsgrund p1c_040.021 kann keine nur beschränkende Form p1c_040.022 des Willens seyn, die der Wille nicht beleidigen p1c_040.023 darf. Das Kantische Gesetz verbietet alle subjektiven p1c_040.024 Maximen, sie verlangt also nichts, als eine formelle p1c_040.025 höchste Jdentität der Vernunft in dem Reiche vernunftbegabter p1c_040.026 Wesen. Jndem sie alle subjektiven Maximen verbietet, p1c_040.027 verbietet sie das niedere Leben, aber sie gebietet p1c_040.028 kein höheres. Jst das Kantische Gesetz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/98
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/98>, abgerufen am 02.05.2024.