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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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ist, daß sie nicht von der Vernunft der Männer geleitet werden,
sondern von ihrer eigenen Vernunft. Jhre Jnteressen sind nicht
dieselben; daher können sie, ohne wider die Vernunft zu ver-
stoßen, sich von anderen Grundsätzen bestimmen lassen. Es ist
eben so vernünftig für eine Frau, sich mit den Reizen ihrer
Erscheinung zu beschäftigen, wie es für Demosthenes vernünftig
war, seine Stimme und seine Gesten sorgfältig zu pflegen.

Man meint ferner, die Frauen hätten nicht eigentlich die
Empfindung für die Gerechtigkeit. Diese Beobachtung ist
richtiger, aber sie beweist nichts. Denn es ist nicht die Natur,
sondern die Erziehung, die sociale Existenz, welche diesen Unter-
schied verursacht. Die eine wie die andere hat die Frauen
daran gewöhnt zu fragen, nicht, was ist gerecht, sondern, was
ist anständig?

Man würde (bei Ertheilung der politischen Rechte) den
Einfluß der Frauen auf die Männer zu fürchten haben, wendet
man ferner ein. Wir antworten, daß dieser Einfluß weit mehr
zu fürchten ist im Geheimen als in der öffentlichen Discussion.
Man würde, heißt es endlich, die Frauen von den Pflichten
entfernen, welche die Natur ihnen vorzugsweise auferlegt hat.
Das hat seine guten Wege, entgegnet Condorcet; denn im
gegenwärtigen Zustand der Civilisation wird immer nur eine
sehr kleine Zahl von Bürgern sich wirklich mit den öffentlichen
Angelegenheiten beschäftigen können.

Zur selben Zeit ist es in England eine Frau, welche das-
selbe Panier ergreift - Mary Wollstonecraft, mit ihrem
Buche über die "Vindication der Frauenrechte".*)

*) Vindication of the Rights of Woman: with strictures on

ist, daß sie nicht von der Vernunft der Männer geleitet werden,
sondern von ihrer eigenen Vernunft. Jhre Jnteressen sind nicht
dieselben; daher können sie, ohne wider die Vernunft zu ver-
stoßen, sich von anderen Grundsätzen bestimmen lassen. Es ist
eben so vernünftig für eine Frau, sich mit den Reizen ihrer
Erscheinung zu beschäftigen, wie es für Demosthenes vernünftig
war, seine Stimme und seine Gesten sorgfältig zu pflegen.

Man meint ferner, die Frauen hätten nicht eigentlich die
Empfindung für die Gerechtigkeit. Diese Beobachtung ist
richtiger, aber sie beweist nichts. Denn es ist nicht die Natur,
sondern die Erziehung, die sociale Existenz, welche diesen Unter-
schied verursacht. Die eine wie die andere hat die Frauen
daran gewöhnt zu fragen, nicht, was ist gerecht, sondern, was
ist anständig?

Man würde (bei Ertheilung der politischen Rechte) den
Einfluß der Frauen auf die Männer zu fürchten haben, wendet
man ferner ein. Wir antworten, daß dieser Einfluß weit mehr
zu fürchten ist im Geheimen als in der öffentlichen Discussion.
Man würde, heißt es endlich, die Frauen von den Pflichten
entfernen, welche die Natur ihnen vorzugsweise auferlegt hat.
Das hat seine guten Wege, entgegnet Condorcet; denn im
gegenwärtigen Zustand der Civilisation wird immer nur eine
sehr kleine Zahl von Bürgern sich wirklich mit den öffentlichen
Angelegenheiten beschäftigen können.

Zur selben Zeit ist es in England eine Frau, welche das-
selbe Panier ergreift – Mary Wollstonecraft, mit ihrem
Buche über die „Vindication der Frauenrechte“.*)

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[91/0107] ist, daß sie nicht von der Vernunft der Männer geleitet werden, sondern von ihrer eigenen Vernunft. Jhre Jnteressen sind nicht dieselben; daher können sie, ohne wider die Vernunft zu ver- stoßen, sich von anderen Grundsätzen bestimmen lassen. Es ist eben so vernünftig für eine Frau, sich mit den Reizen ihrer Erscheinung zu beschäftigen, wie es für Demosthenes vernünftig war, seine Stimme und seine Gesten sorgfältig zu pflegen. Man meint ferner, die Frauen hätten nicht eigentlich die Empfindung für die Gerechtigkeit. Diese Beobachtung ist richtiger, aber sie beweist nichts. Denn es ist nicht die Natur, sondern die Erziehung, die sociale Existenz, welche diesen Unter- schied verursacht. Die eine wie die andere hat die Frauen daran gewöhnt zu fragen, nicht, was ist gerecht, sondern, was ist anständig? Man würde (bei Ertheilung der politischen Rechte) den Einfluß der Frauen auf die Männer zu fürchten haben, wendet man ferner ein. Wir antworten, daß dieser Einfluß weit mehr zu fürchten ist im Geheimen als in der öffentlichen Discussion. Man würde, heißt es endlich, die Frauen von den Pflichten entfernen, welche die Natur ihnen vorzugsweise auferlegt hat. Das hat seine guten Wege, entgegnet Condorcet; denn im gegenwärtigen Zustand der Civilisation wird immer nur eine sehr kleine Zahl von Bürgern sich wirklich mit den öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen können. Zur selben Zeit ist es in England eine Frau, welche das- selbe Panier ergreift – Mary Wollstonecraft, mit ihrem Buche über die „Vindication der Frauenrechte“. *) *) Vindication of the Rights of Woman: with strictures on

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/107>, abgerufen am 15.05.2024.