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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
nach Weise der Inder nur darnach trachteten, sich mit ihrem
Bewußtsein ganz in die göttliche Weltseele zu versenken, sondern
gerade bei ihnen finden wir die ernsteste Sittenlehre und das
kräftigste Streben nach Verwirklichung eines vollkommenen
Staats. Jene Thraker endlich, "welche an die Unsterblichkeit
der Seele glaubten", waren die Tapfersten von allen Stamm¬
genossen, als es galt, ihre Freiheit zu vertheidigen.

Es soll ja auch das diesseitige Leben zu dem jenseitigen
nicht im Gegensatze stehen, sondern schon diesseits ein wahr¬
haft geistiges, d. h. ewiges sein. Sokrates freute sich auf
den Tod, weil er ihn erlösen würde von dem, was ihn in
seinen Betrachtungen störte; sein eigenstes Leben wollte er
also nur fortsetzen unter günstigeren Verhältnissen und in
höherem Luftkreise die Flügel der Seele, die hier gebundenen,
entfalten. So soll bei uns Allen die Luft der Ewigkeit in
die Enge des täglichen Geschäftslebens eindringen, und bei
welchem Lebensberufe soll dies mehr der Fall sein, als bei
dem, welcher, wie der sokratische, der Erforschung der Wahrheit
zugewendet ist? Die Beziehung auf das Ewige ist es, welche
uns Kraft der Ausdauer und Selbstverläugnung giebt; sie
lehrt uns in der Wissenschaft das Wesentliche vom Unwesent¬
lichen unterscheiden und bewahrt uns dadurch vor der Krankheit
einer dünkelhaften und geschmacklosen Vielwisserei; sie macht
die Erkenntniß zur Tugend und die Forschung zu einem
Gottesdienste. Die wahre Wissenschaft ist nur in der Sphäre
des Unendlichen zu begreifen. Sie stellt uns in die Gemein¬
schaft mit den vergangenen Generationen, deren Gedanken
uns immer klarer entgegenleuchten, sie verlangt, daß wir den
kommenden Geschlechtern vorarbeiten. Also auch so stehen wir
auf jedem Punkte inmitten eines ewigen Lebens. Die Menschen¬
geschlechter eilen vorüber; eines reicht dem anderen die Fackel
der Erkenntniß. Thun wir das Unsrige, daß sie hell leuchtend
in die Hände unserer Nachkommen gelange!


Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
nach Weiſe der Inder nur darnach trachteten, ſich mit ihrem
Bewußtſein ganz in die göttliche Weltſeele zu verſenken, ſondern
gerade bei ihnen finden wir die ernſteſte Sittenlehre und das
kräftigſte Streben nach Verwirklichung eines vollkommenen
Staats. Jene Thraker endlich, »welche an die Unſterblichkeit
der Seele glaubten«, waren die Tapferſten von allen Stamm¬
genoſſen, als es galt, ihre Freiheit zu vertheidigen.

Es ſoll ja auch das dieſſeitige Leben zu dem jenſeitigen
nicht im Gegenſatze ſtehen, ſondern ſchon dieſſeits ein wahr¬
haft geiſtiges, d. h. ewiges ſein. Sokrates freute ſich auf
den Tod, weil er ihn erlöſen würde von dem, was ihn in
ſeinen Betrachtungen ſtörte; ſein eigenſtes Leben wollte er
alſo nur fortſetzen unter günſtigeren Verhältniſſen und in
höherem Luftkreiſe die Flügel der Seele, die hier gebundenen,
entfalten. So ſoll bei uns Allen die Luft der Ewigkeit in
die Enge des täglichen Geſchäftslebens eindringen, und bei
welchem Lebensberufe ſoll dies mehr der Fall ſein, als bei
dem, welcher, wie der ſokratiſche, der Erforſchung der Wahrheit
zugewendet iſt? Die Beziehung auf das Ewige iſt es, welche
uns Kraft der Ausdauer und Selbſtverläugnung giebt; ſie
lehrt uns in der Wiſſenſchaft das Weſentliche vom Unweſent¬
lichen unterſcheiden und bewahrt uns dadurch vor der Krankheit
einer dünkelhaften und geſchmackloſen Vielwiſſerei; ſie macht
die Erkenntniß zur Tugend und die Forſchung zu einem
Gottesdienſte. Die wahre Wiſſenſchaft iſt nur in der Sphäre
des Unendlichen zu begreifen. Sie ſtellt uns in die Gemein¬
ſchaft mit den vergangenen Generationen, deren Gedanken
uns immer klarer entgegenleuchten, ſie verlangt, daß wir den
kommenden Geſchlechtern vorarbeiten. Alſo auch ſo ſtehen wir
auf jedem Punkte inmitten eines ewigen Lebens. Die Menſchen¬
geſchlechter eilen vorüber; eines reicht dem anderen die Fackel
der Erkenntniß. Thun wir das Unſrige, daß ſie hell leuchtend
in die Hände unſerer Nachkommen gelange!


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[236/0252] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. nach Weiſe der Inder nur darnach trachteten, ſich mit ihrem Bewußtſein ganz in die göttliche Weltſeele zu verſenken, ſondern gerade bei ihnen finden wir die ernſteſte Sittenlehre und das kräftigſte Streben nach Verwirklichung eines vollkommenen Staats. Jene Thraker endlich, »welche an die Unſterblichkeit der Seele glaubten«, waren die Tapferſten von allen Stamm¬ genoſſen, als es galt, ihre Freiheit zu vertheidigen. Es ſoll ja auch das dieſſeitige Leben zu dem jenſeitigen nicht im Gegenſatze ſtehen, ſondern ſchon dieſſeits ein wahr¬ haft geiſtiges, d. h. ewiges ſein. Sokrates freute ſich auf den Tod, weil er ihn erlöſen würde von dem, was ihn in ſeinen Betrachtungen ſtörte; ſein eigenſtes Leben wollte er alſo nur fortſetzen unter günſtigeren Verhältniſſen und in höherem Luftkreiſe die Flügel der Seele, die hier gebundenen, entfalten. So ſoll bei uns Allen die Luft der Ewigkeit in die Enge des täglichen Geſchäftslebens eindringen, und bei welchem Lebensberufe ſoll dies mehr der Fall ſein, als bei dem, welcher, wie der ſokratiſche, der Erforſchung der Wahrheit zugewendet iſt? Die Beziehung auf das Ewige iſt es, welche uns Kraft der Ausdauer und Selbſtverläugnung giebt; ſie lehrt uns in der Wiſſenſchaft das Weſentliche vom Unweſent¬ lichen unterſcheiden und bewahrt uns dadurch vor der Krankheit einer dünkelhaften und geſchmackloſen Vielwiſſerei; ſie macht die Erkenntniß zur Tugend und die Forſchung zu einem Gottesdienſte. Die wahre Wiſſenſchaft iſt nur in der Sphäre des Unendlichen zu begreifen. Sie ſtellt uns in die Gemein¬ ſchaft mit den vergangenen Generationen, deren Gedanken uns immer klarer entgegenleuchten, ſie verlangt, daß wir den kommenden Geſchlechtern vorarbeiten. Alſo auch ſo ſtehen wir auf jedem Punkte inmitten eines ewigen Lebens. Die Menſchen¬ geſchlechter eilen vorüber; eines reicht dem anderen die Fackel der Erkenntniß. Thun wir das Unſrige, daß ſie hell leuchtend in die Hände unſerer Nachkommen gelange!

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/252>, abgerufen am 26.05.2024.