Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Weihe des Siegs.
was aber in innerer Lebensgemeinschaft steht, kommt jetzt
erst zu vollem und frohem Bewußtsein derselben. Das sind
die natürlichen und gesunden Verhältnisse, wie sie immer vor¬
handen sein sollten, aber sie zeigen sich nur als Ausnahme¬
zustände im Völkerleben, weil es außerordentlicher Umstände,
bedarf, um den selbstischen und verneinenden Geist in den
Menschenherzen zu überwinden und die idealen Kräfte einmal
zur Herrschaft zu bringen.

Das sind diejenigen Kriege, in denen sich nach göttlichem
Rathschlusse der Fluch in Segen verwandelt, die gerechten
Kriege, die aller Noth und aller Thränen ungeachtet geweihte
Zeiten sind, Zeiten der Erhebung und Läuterung, Festzeiten
voll wunderbarer Lebenswärme und nachhaltender, vorbildlicher
Bedeutung. Darum lauschen wir noch heute so gerne auf die
Kunde von Marathon und Salamis; darum glühten uns die
Wangen, wenn unsere Väter aus den Freiheitskriegen er¬
zählten -- und nun sind wir selbst gewürdigt worden solche
Zeiten zu erleben, die bewegenden Kräfte der Geschichte in uns
und um uns zu spüren, zum ersten Male in vollem Maße zu
empfinden, was ein Volk ist und was unser Volk ist. War
es uns doch selbst ein Wunder, wie Kälte und Mißtrauen auf
einmal verschwunden war, wie ohne alle Verabredung das
ganze Volk auf einmal wie ein Mann da stand und den völlig
unerwarteten Krieg einstimmig mit Jubel begrüßte, nicht aus
frivolem Leichtsinn, sondern von dem frohen Muthe beseelt,
welcher die Menschen immer durchdringt, wenn sie mit zweifel¬
loser Entschlossenheit an ein großes Werk hinantreten und
dabei ihrer wachsenden Kräfte bewußt werden.

Deutschland, der geographische Begriff, jetzt auf einmal
ein einmüthig handelndes, beseeltes Wesen und das künstliche
Drathnetz den Nervenverzweigungen gleich, welche die Glieder
des Leibes zu gemeinsamer Empfindung einigen, so daß in
allen Städten gleichzeitig die Siegesfahnen wehten, die Glocken
anschlugen und die Herzen jubelten!

Und auch in den deutschen Ländern, deren Söhne nicht
mit den Unsrigen im Felde standen, sahen wir zu unserer

Die Weihe des Siegs.
was aber in innerer Lebensgemeinſchaft ſteht, kommt jetzt
erſt zu vollem und frohem Bewußtſein derſelben. Das ſind
die natürlichen und geſunden Verhältniſſe, wie ſie immer vor¬
handen ſein ſollten, aber ſie zeigen ſich nur als Ausnahme¬
zuſtände im Völkerleben, weil es außerordentlicher Umſtände,
bedarf, um den ſelbſtiſchen und verneinenden Geiſt in den
Menſchenherzen zu überwinden und die idealen Kräfte einmal
zur Herrſchaft zu bringen.

Das ſind diejenigen Kriege, in denen ſich nach göttlichem
Rathſchluſſe der Fluch in Segen verwandelt, die gerechten
Kriege, die aller Noth und aller Thränen ungeachtet geweihte
Zeiten ſind, Zeiten der Erhebung und Läuterung, Feſtzeiten
voll wunderbarer Lebenswärme und nachhaltender, vorbildlicher
Bedeutung. Darum lauſchen wir noch heute ſo gerne auf die
Kunde von Marathon und Salamis; darum glühten uns die
Wangen, wenn unſere Väter aus den Freiheitskriegen er¬
zählten — und nun ſind wir ſelbſt gewürdigt worden ſolche
Zeiten zu erleben, die bewegenden Kräfte der Geſchichte in uns
und um uns zu ſpüren, zum erſten Male in vollem Maße zu
empfinden, was ein Volk iſt und was unſer Volk iſt. War
es uns doch ſelbſt ein Wunder, wie Kälte und Mißtrauen auf
einmal verſchwunden war, wie ohne alle Verabredung das
ganze Volk auf einmal wie ein Mann da ſtand und den völlig
unerwarteten Krieg einſtimmig mit Jubel begrüßte, nicht aus
frivolem Leichtſinn, ſondern von dem frohen Muthe beſeelt,
welcher die Menſchen immer durchdringt, wenn ſie mit zweifel¬
loſer Entſchloſſenheit an ein großes Werk hinantreten und
dabei ihrer wachſenden Kräfte bewußt werden.

Deutſchland, der geographiſche Begriff, jetzt auf einmal
ein einmüthig handelndes, beſeeltes Weſen und das künſtliche
Drathnetz den Nervenverzweigungen gleich, welche die Glieder
des Leibes zu gemeinſamer Empfindung einigen, ſo daß in
allen Städten gleichzeitig die Siegesfahnen wehten, die Glocken
anſchlugen und die Herzen jubelten!

Und auch in den deutſchen Ländern, deren Söhne nicht
mit den Unſrigen im Felde ſtanden, ſahen wir zu unſerer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0360" n="344"/><fw place="top" type="header">Die Weihe des Siegs.<lb/></fw> was aber in innerer Lebensgemein&#x017F;chaft &#x017F;teht, kommt jetzt<lb/>
er&#x017F;t zu vollem und frohem Bewußt&#x017F;ein der&#x017F;elben. Das &#x017F;ind<lb/>
die natürlichen und ge&#x017F;unden Verhältni&#x017F;&#x017F;e, wie &#x017F;ie immer vor¬<lb/>
handen &#x017F;ein &#x017F;ollten, aber &#x017F;ie zeigen &#x017F;ich nur als Ausnahme¬<lb/>
zu&#x017F;tände im Völkerleben, weil es außerordentlicher Um&#x017F;tände,<lb/>
bedarf, um den &#x017F;elb&#x017F;ti&#x017F;chen und verneinenden Gei&#x017F;t in den<lb/>
Men&#x017F;chenherzen zu überwinden und die idealen Kräfte einmal<lb/>
zur Herr&#x017F;chaft zu bringen.</p><lb/>
        <p>Das &#x017F;ind diejenigen Kriege, in denen &#x017F;ich nach göttlichem<lb/>
Rath&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e der Fluch in Segen verwandelt, die gerechten<lb/>
Kriege, die aller Noth und aller Thränen ungeachtet geweihte<lb/>
Zeiten &#x017F;ind, Zeiten der Erhebung und Läuterung, Fe&#x017F;tzeiten<lb/>
voll wunderbarer Lebenswärme und nachhaltender, vorbildlicher<lb/>
Bedeutung. Darum lau&#x017F;chen wir noch heute &#x017F;o gerne auf die<lb/>
Kunde von Marathon und Salamis; darum glühten uns die<lb/>
Wangen, wenn un&#x017F;ere Väter aus den Freiheitskriegen er¬<lb/>
zählten &#x2014; und nun &#x017F;ind wir &#x017F;elb&#x017F;t gewürdigt worden &#x017F;olche<lb/>
Zeiten zu erleben, die bewegenden Kräfte der Ge&#x017F;chichte in uns<lb/>
und um uns zu &#x017F;püren, zum er&#x017F;ten Male in vollem Maße zu<lb/>
empfinden, was ein Volk i&#x017F;t und was un&#x017F;er Volk i&#x017F;t. War<lb/>
es uns doch &#x017F;elb&#x017F;t ein Wunder, wie Kälte und Mißtrauen auf<lb/>
einmal ver&#x017F;chwunden war, wie ohne alle Verabredung das<lb/>
ganze Volk auf einmal wie ein Mann da &#x017F;tand und den völlig<lb/>
unerwarteten Krieg ein&#x017F;timmig mit Jubel begrüßte, nicht aus<lb/>
frivolem Leicht&#x017F;inn, &#x017F;ondern von dem frohen Muthe be&#x017F;eelt,<lb/>
welcher die Men&#x017F;chen immer durchdringt, wenn &#x017F;ie mit zweifel¬<lb/>
lo&#x017F;er Ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit an ein großes Werk hinantreten und<lb/>
dabei ihrer wach&#x017F;enden Kräfte bewußt werden.</p><lb/>
        <p>Deut&#x017F;chland, der geographi&#x017F;che Begriff, jetzt auf einmal<lb/>
ein einmüthig handelndes, be&#x017F;eeltes We&#x017F;en und das kün&#x017F;tliche<lb/>
Drathnetz den Nervenverzweigungen gleich, welche die Glieder<lb/>
des Leibes zu gemein&#x017F;amer Empfindung einigen, &#x017F;o daß in<lb/>
allen Städten gleichzeitig die Siegesfahnen wehten, die Glocken<lb/>
an&#x017F;chlugen und die Herzen jubelten!</p><lb/>
        <p>Und auch in den deut&#x017F;chen Ländern, deren Söhne nicht<lb/>
mit den Un&#x017F;rigen im Felde &#x017F;tanden, &#x017F;ahen wir zu un&#x017F;erer<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[344/0360] Die Weihe des Siegs. was aber in innerer Lebensgemeinſchaft ſteht, kommt jetzt erſt zu vollem und frohem Bewußtſein derſelben. Das ſind die natürlichen und geſunden Verhältniſſe, wie ſie immer vor¬ handen ſein ſollten, aber ſie zeigen ſich nur als Ausnahme¬ zuſtände im Völkerleben, weil es außerordentlicher Umſtände, bedarf, um den ſelbſtiſchen und verneinenden Geiſt in den Menſchenherzen zu überwinden und die idealen Kräfte einmal zur Herrſchaft zu bringen. Das ſind diejenigen Kriege, in denen ſich nach göttlichem Rathſchluſſe der Fluch in Segen verwandelt, die gerechten Kriege, die aller Noth und aller Thränen ungeachtet geweihte Zeiten ſind, Zeiten der Erhebung und Läuterung, Feſtzeiten voll wunderbarer Lebenswärme und nachhaltender, vorbildlicher Bedeutung. Darum lauſchen wir noch heute ſo gerne auf die Kunde von Marathon und Salamis; darum glühten uns die Wangen, wenn unſere Väter aus den Freiheitskriegen er¬ zählten — und nun ſind wir ſelbſt gewürdigt worden ſolche Zeiten zu erleben, die bewegenden Kräfte der Geſchichte in uns und um uns zu ſpüren, zum erſten Male in vollem Maße zu empfinden, was ein Volk iſt und was unſer Volk iſt. War es uns doch ſelbſt ein Wunder, wie Kälte und Mißtrauen auf einmal verſchwunden war, wie ohne alle Verabredung das ganze Volk auf einmal wie ein Mann da ſtand und den völlig unerwarteten Krieg einſtimmig mit Jubel begrüßte, nicht aus frivolem Leichtſinn, ſondern von dem frohen Muthe beſeelt, welcher die Menſchen immer durchdringt, wenn ſie mit zweifel¬ loſer Entſchloſſenheit an ein großes Werk hinantreten und dabei ihrer wachſenden Kräfte bewußt werden. Deutſchland, der geographiſche Begriff, jetzt auf einmal ein einmüthig handelndes, beſeeltes Weſen und das künſtliche Drathnetz den Nervenverzweigungen gleich, welche die Glieder des Leibes zu gemeinſamer Empfindung einigen, ſo daß in allen Städten gleichzeitig die Siegesfahnen wehten, die Glocken anſchlugen und die Herzen jubelten! Und auch in den deutſchen Ländern, deren Söhne nicht mit den Unſrigen im Felde ſtanden, ſahen wir zu unſerer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/360
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/360>, abgerufen am 05.06.2024.