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Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859.

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Es kommt auch eine Versuchung des Herakles
vor, bekannt unter dem Namen: "Hercules am
Scheidewege."
Es ist eine moralische Erzählung, die
von Sokrates *) auf Prodikos zurückgeführt wird,
die aber Buttmann gleichwohl für ächt mythisch hält.
Als Herakles, so heißt es, die Jahre der Kindheit über-
schritten hatte, begab er sich in eine einsame Gegend, um
über den von ihm einzuschlagenden Lebensweg nachzuden-
ken. Da erschienen ihm zwei allegorische Frauengestalten,
die Wollust und die Tugend; jede suchte ihn für sich zu
gewinnen; er entschloß sich für die letztere, trotz der von
ihr nicht verhehlten Beschwerlichkeiten des Tugendpfades.
Mag nun diese Darstellung einen ursprünglichen Zug des
Mythus bilden, oder erst später hinzugedichtet sein, sie
macht wirklich einen organischen Bestandtheil des Ganzen
aus; denn ein Held und Heiland muß wissen, was auf
ihn wartet, was er aufgibt und was er zu ertragen haben
wird; er muß den Weg, den er einschlägt, mit vollem,
klarem Bewußtsein wählen, da sonst sein Leiden und Thun
an innerem Unwerthe krankt und für ein erhabenes Vor-
bild voll sittlicher Kraft und Charaktergröße nicht gelten
kann. --

Wohl zu bemerken ist auch dieses, daß hier Alles auf
göttliche Anordnung, unter göttlicher Leitung, dem Wil-
len und Ausspruche der größten und höchsten Gottheiten,
des obersten Herrn und Vaters Zeus, der Athene, dieser
Personifikation seiner Weisheit, des Apollon, seines gött-
lichen Propheten, gemäß, geschieht und daß sich Herakles,
wiewohl so kühn und stark, daß er selbst Götter zu ver-
wunden vermag, alldem unterwirft, so schwer es ihm auch
fallen mag. In den wichtigsten Angelegenheiten fragt der-

*) In Xenophon's Denkwürdigkeiten des Sokrates.

Es kommt auch eine Verſuchung des Herakles
vor, bekannt unter dem Namen: „Hercules am
Scheidewege.“
Es iſt eine moraliſche Erzählung, die
von Sokrates *) auf Prodikos zurückgeführt wird,
die aber Buttmann gleichwohl für ächt mythiſch hält.
Als Herakles, ſo heißt es, die Jahre der Kindheit über-
ſchritten hatte, begab er ſich in eine einſame Gegend, um
über den von ihm einzuſchlagenden Lebensweg nachzuden-
ken. Da erſchienen ihm zwei allegoriſche Frauengeſtalten,
die Wolluſt und die Tugend; jede ſuchte ihn für ſich zu
gewinnen; er entſchloß ſich für die letztere, trotz der von
ihr nicht verhehlten Beſchwerlichkeiten des Tugendpfades.
Mag nun dieſe Darſtellung einen urſprünglichen Zug des
Mythus bilden, oder erſt ſpäter hinzugedichtet ſein, ſie
macht wirklich einen organiſchen Beſtandtheil des Ganzen
aus; denn ein Held und Heiland muß wiſſen, was auf
ihn wartet, was er aufgibt und was er zu ertragen haben
wird; er muß den Weg, den er einſchlägt, mit vollem,
klarem Bewußtſein wählen, da ſonſt ſein Leiden und Thun
an innerem Unwerthe krankt und für ein erhabenes Vor-
bild voll ſittlicher Kraft und Charaktergröße nicht gelten
kann. —

Wohl zu bemerken iſt auch dieſes, daß hier Alles auf
göttliche Anordnung, unter göttlicher Leitung, dem Wil-
len und Ausſpruche der größten und höchſten Gottheiten,
des oberſten Herrn und Vaters Zeus, der Athene, dieſer
Perſonifikation ſeiner Weisheit, des Apollon, ſeines gött-
lichen Propheten, gemäß, geſchieht und daß ſich Herakles,
wiewohl ſo kühn und ſtark, daß er ſelbſt Götter zu ver-
wunden vermag, alldem unterwirft, ſo ſchwer es ihm auch
fallen mag. In den wichtigſten Angelegenheiten fragt der-

*) In Xenophon’s Denkwürdigkeiten des Sokrates.
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[30/0052] Es kommt auch eine Verſuchung des Herakles vor, bekannt unter dem Namen: „Hercules am Scheidewege.“ Es iſt eine moraliſche Erzählung, die von Sokrates *) auf Prodikos zurückgeführt wird, die aber Buttmann gleichwohl für ächt mythiſch hält. Als Herakles, ſo heißt es, die Jahre der Kindheit über- ſchritten hatte, begab er ſich in eine einſame Gegend, um über den von ihm einzuſchlagenden Lebensweg nachzuden- ken. Da erſchienen ihm zwei allegoriſche Frauengeſtalten, die Wolluſt und die Tugend; jede ſuchte ihn für ſich zu gewinnen; er entſchloß ſich für die letztere, trotz der von ihr nicht verhehlten Beſchwerlichkeiten des Tugendpfades. Mag nun dieſe Darſtellung einen urſprünglichen Zug des Mythus bilden, oder erſt ſpäter hinzugedichtet ſein, ſie macht wirklich einen organiſchen Beſtandtheil des Ganzen aus; denn ein Held und Heiland muß wiſſen, was auf ihn wartet, was er aufgibt und was er zu ertragen haben wird; er muß den Weg, den er einſchlägt, mit vollem, klarem Bewußtſein wählen, da ſonſt ſein Leiden und Thun an innerem Unwerthe krankt und für ein erhabenes Vor- bild voll ſittlicher Kraft und Charaktergröße nicht gelten kann. — Wohl zu bemerken iſt auch dieſes, daß hier Alles auf göttliche Anordnung, unter göttlicher Leitung, dem Wil- len und Ausſpruche der größten und höchſten Gottheiten, des oberſten Herrn und Vaters Zeus, der Athene, dieſer Perſonifikation ſeiner Weisheit, des Apollon, ſeines gött- lichen Propheten, gemäß, geſchieht und daß ſich Herakles, wiewohl ſo kühn und ſtark, daß er ſelbſt Götter zu ver- wunden vermag, alldem unterwirft, ſo ſchwer es ihm auch fallen mag. In den wichtigſten Angelegenheiten fragt der- *) In Xenophon’s Denkwürdigkeiten des Sokrates.

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Zitationshilfe: Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/daumer_krone_1859/52>, abgerufen am 01.11.2024.