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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit,
der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen
als die Geschichte der auf Verstand und Wissen
beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende
Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt
wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt.
Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu-
sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch
nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst
muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ist's,
das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren,
wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur insoweit
nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die Fähigkeit,
diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht konstant. Wir
haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten der Blüte und
Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das nicht. Wenn
wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel, aber keine Spie-
lerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich, zwar ein Überfluß,
aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir wissen, daß schon die
Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jahren Kunst geübt haben,
und glauben, daß der letzte Dichter der letzte Mensch sein wird
-- woher kommt dann das sehr ungleiche Funktionieren der
kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel von Blüte und
Verfall?

Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre,
die vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht
wenig Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten,
indem sie die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschicht-
lichen Verlauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen,
Blüte- und Verfallzeiten; was einer subalternen Auffassung so
erscheine, erweise sich einer höheren wissenschaftlichen Betrach-
tung als eine in ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwick-
lung, in der auf jedem Punkte alles gleich notwendig und immer
gleich wertvoll sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner
Krisis gesprochen werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf
einen falschen Grund gestellt.

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Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit,
der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen
als die Geschichte der auf Verstand und Wissen
beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende
Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt
wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt.
Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu-
sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch
nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst
muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ist's,
das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren,
wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur insoweit
nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die Fähigkeit,
diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht konstant. Wir
haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten der Blüte und
Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das nicht. Wenn
wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel, aber keine Spie-
lerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich, zwar ein Überfluß,
aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir wissen, daß schon die
Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jahren Kunst geübt haben,
und glauben, daß der letzte Dichter der letzte Mensch sein wird
— woher kommt dann das sehr ungleiche Funktionieren der
kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel von Blüte und
Verfall?

Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre,
die vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht
wenig Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten,
indem sie die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschicht-
lichen Verlauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen,
Blüte- und Verfallzeiten; was einer subalternen Auffassung so
erscheine, erweise sich einer höheren wissenschaftlichen Betrach-
tung als eine in ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwick-
lung, in der auf jedem Punkte alles gleich notwendig und immer
gleich wertvoll sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner
Krisis gesprochen werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf
einen falschen Grund gestellt.

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[[147]/0189] Die Geschichte der menschlichen Phantasiearbeit, der Kunst, verläuft in wesentlich anderen Formen als die Geschichte der auf Verstand und Wissen beruhenden Geistestätigkeit. Diese ist fortlaufende Addition; das Zeitmaß des Fortschrittes wechselt wohl zwischen schnell und langsam, aber immer ist es Fortschritt. Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik lassen sich sozu- sagen kapitalisieren, die Fortschritte der Kunst nicht. Oder doch nur insoweit, als sie zugleich Wissen und Technik sind. Die Kunst muß immer wieder von vorn anfangen, denn ihre Aufgabe ist's, das wechselnde innere Leben der Zeit als Bild auszukristallisieren, wobei ihr die von früheren Zeiten errungenen Werte nur insoweit nützen, als sie sie umbildet und sich assimiliert. Die Fähigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, ist aber offenbar nicht konstant. Wir haben den Eindruck, daß in der Kunst es Zeiten der Blüte und Zeiten des Verfalls gebe. Leicht zu erklären ist das nicht. Wenn wir überzeugt sind, daß die Kunst zwar ein Spiel, aber keine Spie- lerei, zwar ein Schein, aber doch sehr wirklich, zwar ein Überfluß, aber doch ganz unentbehrlich ist; wenn wir wissen, daß schon die Höhlenmenschen vor dreißigtausend Jahren Kunst geübt haben, und glauben, daß der letzte Dichter der letzte Mensch sein wird — woher kommt dann das sehr ungleiche Funktionieren der kunsterzeugenden Seelenkräfte? dieser Wechsel von Blüte und Verfall? Eine sehr einfache und radikale Erklärung gibt eine Lehre, die vor einiger Zeit erst aufgetaucht ist und, wie es scheint, nicht wenig Anhänger sich erworben hat: sie durchhaut den Knoten, indem sie die Tatsache selbst leugnet. Es gebe im kunstgeschicht- lichen Verlauf, so behauptet sie, gar keine Höhen und Tiefen, Blüte- und Verfallzeiten; was einer subalternen Auffassung so erscheine, erweise sich einer höheren wissenschaftlichen Betrach- tung als eine in ununterbrochener Stetigkeit abrollende Entwick- lung, in der auf jedem Punkte alles gleich notwendig und immer gleich wertvoll sei. Es dürfte dann natürlich auch von keiner Krisis gesprochen werden, mein Vortrag wäre von vornherein auf einen falschen Grund gestellt. 10*

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [147]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/189>, abgerufen am 27.04.2024.