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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
Projekt bilden die älteren Zeichnungen. Leider nur sind sie von
ganz kleinem Maßstabe und halten sich in flüchtigen Andeutungen;
mehr als das Allgemeinste, nämlich, daß auf der Westseite ein
Zwillingsgiebel, auf der Ostseite zwei getrennte Giebel und zwischen
ihnen rechtwinkelig zur Fassade stehende Dächer vorhanden waren,
verraten sie nicht; wer danach bauen will, muß seiner Phantasie
einen großen Spielraum geben, was denn auch Schäfer reichlichst
getan hat. Das ist aber noch nicht das schwerste Bedenken. Es
sind nämlich die ältesten der in Frage stehenden Zeugnisse nicht
älter als das Ende des 16. Jahrhunderts; durch nichts wird verbürgt,
daß sie die unveränderte erste Bauidee wiedergeben. Der Bau
war begonnen 1556, vollendet 1563. Der Pfalzgraf war schon vor-
her gestorben. Die Bauleitung scheint gewechselt zu haben.
Vollends für die Epoche von 1563 bis zum Ende des Jahrhunderts
liegt für etwaige Veränderungen jede Möglichkeit offen. Mehrere
Kritiker glauben gemäß dem mit Alexander Colins geschlossenen
Vertrag vom Jahre 1558 die Absicht auf Fassadengiebel mit Be-
stimmtheit verneinen zu sollen. Zwingend ist ihre Beweisführung
wohl nicht, da das argumentum ex silentio eine zu große Rolle darin
spielt. Gewisse, aus dem Bauwerk selbst zu entnehmende Argu-
mente führen jedoch, wenigstens mit Wahrscheinlichkeit, zu dem-
selben Ergebnis. Wie Oberbaudirektor Durm längst nachgewiesen
hat (im Zentralblatt der Bauverwaltung 1884), haben die durch
Merian usw. überlieferten Ansichten, sobald man sie auf dem be-
stehenden Grundriß nachkonstruiert, höchst wunderliche und unge-
schickte Gestaltung der Dächer zur Folge; es ist schwer zu glauben,
daß ein Architekt, der freie Hand hatte, ein Architekt vollends,
der sichtlich aus italienischer Tradition hervorgegangen war, auf
dergleichen soll geraten sein; anders, wenn die Giebel ein später
hinzugetretener Baugedanke waren und wenn mit dem Zwang ge-
gebener Verhältnisse gerechnet werden mußte. Sodann das Ver-
hältnis von Giebel und Fassade? Niemand kann in ihr etwas
anderes sehen, als eine italienisch inspirierte, in sich völlig ab-
geschlossene
Komposition; in ihren Linien ist nicht die
leiseste Andeutung von etwas, das nach weiterer Entwicklung und
Lösung verlangte; nicht die leiseste Andeutung, daß über dem

Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?
Projekt bilden die älteren Zeichnungen. Leider nur sind sie von
ganz kleinem Maßstabe und halten sich in flüchtigen Andeutungen;
mehr als das Allgemeinste, nämlich, daß auf der Westseite ein
Zwillingsgiebel, auf der Ostseite zwei getrennte Giebel und zwischen
ihnen rechtwinkelig zur Fassade stehende Dächer vorhanden waren,
verraten sie nicht; wer danach bauen will, muß seiner Phantasie
einen großen Spielraum geben, was denn auch Schäfer reichlichst
getan hat. Das ist aber noch nicht das schwerste Bedenken. Es
sind nämlich die ältesten der in Frage stehenden Zeugnisse nicht
älter als das Ende des 16. Jahrhunderts; durch nichts wird verbürgt,
daß sie die unveränderte erste Bauidee wiedergeben. Der Bau
war begonnen 1556, vollendet 1563. Der Pfalzgraf war schon vor-
her gestorben. Die Bauleitung scheint gewechselt zu haben.
Vollends für die Epoche von 1563 bis zum Ende des Jahrhunderts
liegt für etwaige Veränderungen jede Möglichkeit offen. Mehrere
Kritiker glauben gemäß dem mit Alexander Colins geschlossenen
Vertrag vom Jahre 1558 die Absicht auf Fassadengiebel mit Be-
stimmtheit verneinen zu sollen. Zwingend ist ihre Beweisführung
wohl nicht, da das argumentum ex silentio eine zu große Rolle darin
spielt. Gewisse, aus dem Bauwerk selbst zu entnehmende Argu-
mente führen jedoch, wenigstens mit Wahrscheinlichkeit, zu dem-
selben Ergebnis. Wie Oberbaudirektor Durm längst nachgewiesen
hat (im Zentralblatt der Bauverwaltung 1884), haben die durch
Merian usw. überlieferten Ansichten, sobald man sie auf dem be-
stehenden Grundriß nachkonstruiert, höchst wunderliche und unge-
schickte Gestaltung der Dächer zur Folge; es ist schwer zu glauben,
daß ein Architekt, der freie Hand hatte, ein Architekt vollends,
der sichtlich aus italienischer Tradition hervorgegangen war, auf
dergleichen soll geraten sein; anders, wenn die Giebel ein später
hinzugetretener Baugedanke waren und wenn mit dem Zwang ge-
gebener Verhältnisse gerechnet werden mußte. Sodann das Ver-
hältnis von Giebel und Fassade? Niemand kann in ihr etwas
anderes sehen, als eine italienisch inspirierte, in sich völlig ab-
geschlossene
Komposition; in ihren Linien ist nicht die
leiseste Andeutung von etwas, das nach weiterer Entwicklung und
Lösung verlangte; nicht die leiseste Andeutung, daß über dem

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[256/0318] Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden? Projekt bilden die älteren Zeichnungen. Leider nur sind sie von ganz kleinem Maßstabe und halten sich in flüchtigen Andeutungen; mehr als das Allgemeinste, nämlich, daß auf der Westseite ein Zwillingsgiebel, auf der Ostseite zwei getrennte Giebel und zwischen ihnen rechtwinkelig zur Fassade stehende Dächer vorhanden waren, verraten sie nicht; wer danach bauen will, muß seiner Phantasie einen großen Spielraum geben, was denn auch Schäfer reichlichst getan hat. Das ist aber noch nicht das schwerste Bedenken. Es sind nämlich die ältesten der in Frage stehenden Zeugnisse nicht älter als das Ende des 16. Jahrhunderts; durch nichts wird verbürgt, daß sie die unveränderte erste Bauidee wiedergeben. Der Bau war begonnen 1556, vollendet 1563. Der Pfalzgraf war schon vor- her gestorben. Die Bauleitung scheint gewechselt zu haben. Vollends für die Epoche von 1563 bis zum Ende des Jahrhunderts liegt für etwaige Veränderungen jede Möglichkeit offen. Mehrere Kritiker glauben gemäß dem mit Alexander Colins geschlossenen Vertrag vom Jahre 1558 die Absicht auf Fassadengiebel mit Be- stimmtheit verneinen zu sollen. Zwingend ist ihre Beweisführung wohl nicht, da das argumentum ex silentio eine zu große Rolle darin spielt. Gewisse, aus dem Bauwerk selbst zu entnehmende Argu- mente führen jedoch, wenigstens mit Wahrscheinlichkeit, zu dem- selben Ergebnis. Wie Oberbaudirektor Durm längst nachgewiesen hat (im Zentralblatt der Bauverwaltung 1884), haben die durch Merian usw. überlieferten Ansichten, sobald man sie auf dem be- stehenden Grundriß nachkonstruiert, höchst wunderliche und unge- schickte Gestaltung der Dächer zur Folge; es ist schwer zu glauben, daß ein Architekt, der freie Hand hatte, ein Architekt vollends, der sichtlich aus italienischer Tradition hervorgegangen war, auf dergleichen soll geraten sein; anders, wenn die Giebel ein später hinzugetretener Baugedanke waren und wenn mit dem Zwang ge- gebener Verhältnisse gerechnet werden mußte. Sodann das Ver- hältnis von Giebel und Fassade? Niemand kann in ihr etwas anderes sehen, als eine italienisch inspirierte, in sich völlig ab- geschlossene Komposition; in ihren Linien ist nicht die leiseste Andeutung von etwas, das nach weiterer Entwicklung und Lösung verlangte; nicht die leiseste Andeutung, daß über dem

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/318>, abgerufen am 15.05.2024.