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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
verstanden ist, noch bevor es erkannt wird1), und zwar in der
Totalität des Gemüthes2), sehr verschieden von denen der Natur-
wissenschaften3). Und man braucht nur die Stellung zu erwägen,
welche hier die Auffassung der Thatsache als solcher hat4), als-
dann ihr Hindurchgehen durch verschiedene Grade von Bearbeitung
unter dem Einfluß der Analysis5), um die ganz andere Struktur
des Zusammenhangs in diesen Wissenschaften zu erkennen. --
Endlich stehen hier Thatsache, Gesetz, Werthgefühl und Regel in
einem inneren Zusammenhang, welcher innerhalb der Naturwissen-
schaften so nicht stattfindet. Dieser Zusammenhang kann nur in der
Selbstbesinnung erkannt werden6), und so hat dieselbe auch hier
ein besonderes Problem der Geisteswissenschaften zu lösen, welches,
wie wir sahen, auf dem metaphysischen Standpunkte der Philosophie
der Geschichte seine Auflösung nicht fand.

Daher eine solche abgesonderte Behandlung die wahre Natur
der Geisteswissenschaften für sich heraustreten läßt und so viel-
leicht dazu beiträgt, die Fesseln zu brechen, in denen die ältere
und stärkere Schwester diese jüngere gehalten hat, von der Zeit
ab in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik
und Naturwissenschaften gereiften Methoden auf diese zurückgeblie-
benen Wissenschaften übertrugen.



1) S. 114 f.
2) S. 122.
3) S. 136 f.
4) S. 41.
5) S. 30 f., 49 f., 116 ff.
6) S. 112.

Erſtes einleitendes Buch.
verſtanden iſt, noch bevor es erkannt wird1), und zwar in der
Totalität des Gemüthes2), ſehr verſchieden von denen der Natur-
wiſſenſchaften3). Und man braucht nur die Stellung zu erwägen,
welche hier die Auffaſſung der Thatſache als ſolcher hat4), als-
dann ihr Hindurchgehen durch verſchiedene Grade von Bearbeitung
unter dem Einfluß der Analyſis5), um die ganz andere Struktur
des Zuſammenhangs in dieſen Wiſſenſchaften zu erkennen. —
Endlich ſtehen hier Thatſache, Geſetz, Werthgefühl und Regel in
einem inneren Zuſammenhang, welcher innerhalb der Naturwiſſen-
ſchaften ſo nicht ſtattfindet. Dieſer Zuſammenhang kann nur in der
Selbſtbeſinnung erkannt werden6), und ſo hat dieſelbe auch hier
ein beſonderes Problem der Geiſteswiſſenſchaften zu löſen, welches,
wie wir ſahen, auf dem metaphyſiſchen Standpunkte der Philoſophie
der Geſchichte ſeine Auflöſung nicht fand.

Daher eine ſolche abgeſonderte Behandlung die wahre Natur
der Geiſteswiſſenſchaften für ſich heraustreten läßt und ſo viel-
leicht dazu beiträgt, die Feſſeln zu brechen, in denen die ältere
und ſtärkere Schweſter dieſe jüngere gehalten hat, von der Zeit
ab in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik
und Naturwiſſenſchaften gereiften Methoden auf dieſe zurückgeblie-
benen Wiſſenſchaften übertrugen.



1) S. 114 f.
2) S. 122.
3) S. 136 f.
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[150/0173] Erſtes einleitendes Buch. verſtanden iſt, noch bevor es erkannt wird 1), und zwar in der Totalität des Gemüthes 2), ſehr verſchieden von denen der Natur- wiſſenſchaften 3). Und man braucht nur die Stellung zu erwägen, welche hier die Auffaſſung der Thatſache als ſolcher hat 4), als- dann ihr Hindurchgehen durch verſchiedene Grade von Bearbeitung unter dem Einfluß der Analyſis 5), um die ganz andere Struktur des Zuſammenhangs in dieſen Wiſſenſchaften zu erkennen. — Endlich ſtehen hier Thatſache, Geſetz, Werthgefühl und Regel in einem inneren Zuſammenhang, welcher innerhalb der Naturwiſſen- ſchaften ſo nicht ſtattfindet. Dieſer Zuſammenhang kann nur in der Selbſtbeſinnung erkannt werden 6), und ſo hat dieſelbe auch hier ein beſonderes Problem der Geiſteswiſſenſchaften zu löſen, welches, wie wir ſahen, auf dem metaphyſiſchen Standpunkte der Philoſophie der Geſchichte ſeine Auflöſung nicht fand. Daher eine ſolche abgeſonderte Behandlung die wahre Natur der Geiſteswiſſenſchaften für ſich heraustreten läßt und ſo viel- leicht dazu beiträgt, die Feſſeln zu brechen, in denen die ältere und ſtärkere Schweſter dieſe jüngere gehalten hat, von der Zeit ab in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik und Naturwiſſenſchaften gereiften Methoden auf dieſe zurückgeblie- benen Wiſſenſchaften übertrugen. 1) S. 114 f. 2) S. 122. 3) S. 136 f. 4) S. 41. 5) S. 30 f., 49 f., 116 ff. 6) S. 112.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/173>, abgerufen am 27.04.2024.