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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Metaphysik als Grundlegung der Geisteswissenschaften.
kann der Standpunkt der Metaphysik von dem, welcher in die
Wissenschaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite
geschoben, sondern er muß von ihm wo nicht durchlebt, doch
ganz durchgedacht und solchergestalt aufgelöst werden. Seine
Folgen erstrecken sich durch den ganzen Zusammenhang der
modernen Begriffe; die Litteratur der Religion und des Staats,
des Rechts wie der Geschichte ist zum größten Theil unter seiner
Herrschaft entstanden, und auch der übrigbleibende Theil befindet
sich meist, selbst gegen seinen Willen, unter seinem Einfluß. Nur
wer diesen Standpunkt in seiner ganzen Kraft sich klar gemacht
d. h. das Bedürfniß desselben, das in der unveränderlichen Natur
des Menschen wurzelt, geschichtlich verstanden, seine lang währende
Macht in ihren Gründen erkannt und seine Folgen sich entwickelt
hat, vermag seine eigene Denkart von diesem metaphysischen Boden
ganz loszulösen und die Wirkungen der Metaphysik in der ihm
vorliegenden Litteratur der Geisteswissenschaften zu erkennen sowie
zu eliminiren. Hat doch die Menschheit selber diesen Gang ge-
nommen. Alsdann nur wer die einfache und harte Form der
prima philosophia an ihrer Geschichte erkannt hat, wird die Un-
haltbarkeit der gegenwärtig herrschenden Metaphysik durchschauen,
welche mit den Erfahrungswissenschaften verbunden oder ihnen an-
gepaßt ist: der Philosophie der naturphilosophischen Monisten,
Schopenhauers und seiner Schüler sowie Lotzes. Endlich nur wer die
Gründe der Sonderung von philosophischen und empirischen Geistes-
wissenschaften, welche in eben dieser Metaphysik gelegen sind, erkannt,
sowie die Folgen dieser Sonderung in der Geschichte der Metaphysik
verfolgt hat, wird in dieser Sonderung in rationale und empirische
Wissenschaften das stehen gebliebene Gehäuse des metaphysischen
Geistes erkennen und es entschlossen wegräumen, um dem gesunden
Verständniß des Zusammenhangs der Geisteswissenschaften freien
Boden zu schaffen.



Metaphyſik als Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.
kann der Standpunkt der Metaphyſik von dem, welcher in die
Wiſſenſchaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite
geſchoben, ſondern er muß von ihm wo nicht durchlebt, doch
ganz durchgedacht und ſolchergeſtalt aufgelöſt werden. Seine
Folgen erſtrecken ſich durch den ganzen Zuſammenhang der
modernen Begriffe; die Litteratur der Religion und des Staats,
des Rechts wie der Geſchichte iſt zum größten Theil unter ſeiner
Herrſchaft entſtanden, und auch der übrigbleibende Theil befindet
ſich meiſt, ſelbſt gegen ſeinen Willen, unter ſeinem Einfluß. Nur
wer dieſen Standpunkt in ſeiner ganzen Kraft ſich klar gemacht
d. h. das Bedürfniß deſſelben, das in der unveränderlichen Natur
des Menſchen wurzelt, geſchichtlich verſtanden, ſeine lang währende
Macht in ihren Gründen erkannt und ſeine Folgen ſich entwickelt
hat, vermag ſeine eigene Denkart von dieſem metaphyſiſchen Boden
ganz loszulöſen und die Wirkungen der Metaphyſik in der ihm
vorliegenden Litteratur der Geiſteswiſſenſchaften zu erkennen ſowie
zu eliminiren. Hat doch die Menſchheit ſelber dieſen Gang ge-
nommen. Alsdann nur wer die einfache und harte Form der
prima philosophia an ihrer Geſchichte erkannt hat, wird die Un-
haltbarkeit der gegenwärtig herrſchenden Metaphyſik durchſchauen,
welche mit den Erfahrungswiſſenſchaften verbunden oder ihnen an-
gepaßt iſt: der Philoſophie der naturphiloſophiſchen Moniſten,
Schopenhauers und ſeiner Schüler ſowie Lotzes. Endlich nur wer die
Gründe der Sonderung von philoſophiſchen und empiriſchen Geiſtes-
wiſſenſchaften, welche in eben dieſer Metaphyſik gelegen ſind, erkannt,
ſowie die Folgen dieſer Sonderung in der Geſchichte der Metaphyſik
verfolgt hat, wird in dieſer Sonderung in rationale und empiriſche
Wiſſenſchaften das ſtehen gebliebene Gehäuſe des metaphyſiſchen
Geiſtes erkennen und es entſchloſſen wegräumen, um dem geſunden
Verſtändniß des Zuſammenhangs der Geiſteswiſſenſchaften freien
Boden zu ſchaffen.



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[157/0180] Metaphyſik als Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften. kann der Standpunkt der Metaphyſik von dem, welcher in die Wiſſenſchaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite geſchoben, ſondern er muß von ihm wo nicht durchlebt, doch ganz durchgedacht und ſolchergeſtalt aufgelöſt werden. Seine Folgen erſtrecken ſich durch den ganzen Zuſammenhang der modernen Begriffe; die Litteratur der Religion und des Staats, des Rechts wie der Geſchichte iſt zum größten Theil unter ſeiner Herrſchaft entſtanden, und auch der übrigbleibende Theil befindet ſich meiſt, ſelbſt gegen ſeinen Willen, unter ſeinem Einfluß. Nur wer dieſen Standpunkt in ſeiner ganzen Kraft ſich klar gemacht d. h. das Bedürfniß deſſelben, das in der unveränderlichen Natur des Menſchen wurzelt, geſchichtlich verſtanden, ſeine lang währende Macht in ihren Gründen erkannt und ſeine Folgen ſich entwickelt hat, vermag ſeine eigene Denkart von dieſem metaphyſiſchen Boden ganz loszulöſen und die Wirkungen der Metaphyſik in der ihm vorliegenden Litteratur der Geiſteswiſſenſchaften zu erkennen ſowie zu eliminiren. Hat doch die Menſchheit ſelber dieſen Gang ge- nommen. Alsdann nur wer die einfache und harte Form der prima philosophia an ihrer Geſchichte erkannt hat, wird die Un- haltbarkeit der gegenwärtig herrſchenden Metaphyſik durchſchauen, welche mit den Erfahrungswiſſenſchaften verbunden oder ihnen an- gepaßt iſt: der Philoſophie der naturphiloſophiſchen Moniſten, Schopenhauers und ſeiner Schüler ſowie Lotzes. Endlich nur wer die Gründe der Sonderung von philoſophiſchen und empiriſchen Geiſtes- wiſſenſchaften, welche in eben dieſer Metaphyſik gelegen ſind, erkannt, ſowie die Folgen dieſer Sonderung in der Geſchichte der Metaphyſik verfolgt hat, wird in dieſer Sonderung in rationale und empiriſche Wiſſenſchaften das ſtehen gebliebene Gehäuſe des metaphyſiſchen Geiſtes erkennen und es entſchloſſen wegräumen, um dem geſunden Verſtändniß des Zuſammenhangs der Geiſteswiſſenſchaften freien Boden zu ſchaffen.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/180>, abgerufen am 28.04.2024.