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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
schaftlichen Geistes eine über solchen Pragmatismus hinausreichende
folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menschengeschlecht als
ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht
die Geschichte der Wissenschaften mit einer großen Fuge, in welcher
die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.

In diesem Zweckzusammenhang der Geschichte der Wissen-
schaften tritt an einem bestimmten Punkte, im 5. Jahrhundert
v. Chr. bei den europäischen Völkern die Metaphysik hervor,
beherrscht in zwei großen Zeiträumen den wissenschaftlichen Geist
Europas und ist alsdann seit mehreren Jahrhunderten in einen
allmäligen Auflösungsprozeß eingetreten.

Der Ausdruck Metaphysik wird in so verschiedenem Verstande
gebraucht, daß der Inbegriff von Thatsachen, welcher hier mit
diesem Namen bezeichnet wird, zunächst historisch einigermaßen
abgegrenzt werden muß.

Es ist bekannt, daß der Ausdruck ursprünglich nur die
Stellung der "ersten Philosophie" des Aristoteles hinter seinen
naturwissenschaftlichen Schriften bezeichnete, daß derselbe aber als-
dann, der Zeitrichtung entsprechend, auf eine Wissenschaft dessen,
was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde 1).

Was Aristoteles unter erster Philosophie verstand, wird da-
rum der Bestimmung dieses Begriffs am zweckmäßigsten zu Grunde
gelegt, weil diese Wissenschaft durch Aristoteles ihre selbständige
von den Einzelwissenschaften klar unterschiedene Gestalt empfangen
hat, und weil der Begriff der Metaphysik, wie derselbe im Zu-
sammenhang hiermit von Aristoteles geprägt wurde, in dem folge-
richtigen Verlauf des Erkenntnißvorgangs angelegt war. Das
was historisch hier auftrat, kann zugleich als das was in dem

1) Bonitz, Aristotelis Metaphysica II, p. 3 sq. erörtert erschöpfend,
daß Aristoteles diese Wissenschaft als prote philosophia bezeichnete, daß der
Ausdruck meta ta phusika für diesen Theil der Schriften des Aristoteles im
Zeitalter des Augustus zuerst auftritt (wahrscheinlich auf Andronikus zurück-
zuführen) und zunächst den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den natur-
wissenschaftlichen in der Sammlung und in dem von Aristoteles hinreichend
angedeuteten systematischen Zusammenhang folgte, alsdann aber, der Zeitrich-
tung entsprechend, auf eine Wissenschaft des Transscendenten gedeutet wurde.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
ſchaftlichen Geiſtes eine über ſolchen Pragmatismus hinausreichende
folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menſchengeſchlecht als
ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht
die Geſchichte der Wiſſenſchaften mit einer großen Fuge, in welcher
die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorſchein kommen.

In dieſem Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſen-
ſchaften tritt an einem beſtimmten Punkte, im 5. Jahrhundert
v. Chr. bei den europäiſchen Völkern die Metaphyſik hervor,
beherrſcht in zwei großen Zeiträumen den wiſſenſchaftlichen Geiſt
Europas und iſt alsdann ſeit mehreren Jahrhunderten in einen
allmäligen Auflöſungsprozeß eingetreten.

Der Ausdruck Metaphyſik wird in ſo verſchiedenem Verſtande
gebraucht, daß der Inbegriff von Thatſachen, welcher hier mit
dieſem Namen bezeichnet wird, zunächſt hiſtoriſch einigermaßen
abgegrenzt werden muß.

Es iſt bekannt, daß der Ausdruck urſprünglich nur die
Stellung der „erſten Philoſophie“ des Ariſtoteles hinter ſeinen
naturwiſſenſchaftlichen Schriften bezeichnete, daß derſelbe aber als-
dann, der Zeitrichtung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft deſſen,
was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde 1).

Was Ariſtoteles unter erſter Philoſophie verſtand, wird da-
rum der Beſtimmung dieſes Begriffs am zweckmäßigſten zu Grunde
gelegt, weil dieſe Wiſſenſchaft durch Ariſtoteles ihre ſelbſtändige
von den Einzelwiſſenſchaften klar unterſchiedene Geſtalt empfangen
hat, und weil der Begriff der Metaphyſik, wie derſelbe im Zu-
ſammenhang hiermit von Ariſtoteles geprägt wurde, in dem folge-
richtigen Verlauf des Erkenntnißvorgangs angelegt war. Das
was hiſtoriſch hier auftrat, kann zugleich als das was in dem

1) Bonitz, Aristotelis Metaphysica II, p. 3 sq. erörtert erſchöpfend,
daß Ariſtoteles dieſe Wiſſenſchaft als πϱώτη φιλοσοφία bezeichnete, daß der
Ausdruck μετὰ τὰ φυσικά für dieſen Theil der Schriften des Ariſtoteles im
Zeitalter des Auguſtus zuerſt auftritt (wahrſcheinlich auf Andronikus zurück-
zuführen) und zunächſt den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den natur-
wiſſenſchaftlichen in der Sammlung und in dem von Ariſtoteles hinreichend
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[160/0183] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. ſchaftlichen Geiſtes eine über ſolchen Pragmatismus hinausreichende folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menſchengeſchlecht als ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht die Geſchichte der Wiſſenſchaften mit einer großen Fuge, in welcher die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorſchein kommen. In dieſem Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſen- ſchaften tritt an einem beſtimmten Punkte, im 5. Jahrhundert v. Chr. bei den europäiſchen Völkern die Metaphyſik hervor, beherrſcht in zwei großen Zeiträumen den wiſſenſchaftlichen Geiſt Europas und iſt alsdann ſeit mehreren Jahrhunderten in einen allmäligen Auflöſungsprozeß eingetreten. Der Ausdruck Metaphyſik wird in ſo verſchiedenem Verſtande gebraucht, daß der Inbegriff von Thatſachen, welcher hier mit dieſem Namen bezeichnet wird, zunächſt hiſtoriſch einigermaßen abgegrenzt werden muß. Es iſt bekannt, daß der Ausdruck urſprünglich nur die Stellung der „erſten Philoſophie“ des Ariſtoteles hinter ſeinen naturwiſſenſchaftlichen Schriften bezeichnete, daß derſelbe aber als- dann, der Zeitrichtung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft deſſen, was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde 1). Was Ariſtoteles unter erſter Philoſophie verſtand, wird da- rum der Beſtimmung dieſes Begriffs am zweckmäßigſten zu Grunde gelegt, weil dieſe Wiſſenſchaft durch Ariſtoteles ihre ſelbſtändige von den Einzelwiſſenſchaften klar unterſchiedene Geſtalt empfangen hat, und weil der Begriff der Metaphyſik, wie derſelbe im Zu- ſammenhang hiermit von Ariſtoteles geprägt wurde, in dem folge- richtigen Verlauf des Erkenntnißvorgangs angelegt war. Das was hiſtoriſch hier auftrat, kann zugleich als das was in dem 1) Bonitz, Aristotelis Metaphysica II, p. 3 sq. erörtert erſchöpfend, daß Ariſtoteles dieſe Wiſſenſchaft als πϱώτη φιλοσοφία bezeichnete, daß der Ausdruck μετὰ τὰ φυσικά für dieſen Theil der Schriften des Ariſtoteles im Zeitalter des Auguſtus zuerſt auftritt (wahrſcheinlich auf Andronikus zurück- zuführen) und zunächſt den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den natur- wiſſenſchaftlichen in der Sammlung und in dem von Ariſtoteles hinreichend angedeuteten ſyſtematiſchen Zuſammenhang folgte, alsdann aber, der Zeitrich- tung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft des Transſcendenten gedeutet wurde.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/183>, abgerufen am 28.04.2024.