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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
welche sind die Beziehungen der Metaphysik zu dem Zweckzu-
sammenhang der intellektuellen Entwicklung und den diesen aus-
machenden, anderen großen Thatsachen des geistigen Lebens?

Comte hat versucht, diese Beziehungen in einem einfachen
Gesetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwick-
lung des Menschengeschlechts ein Stadium der Theologie abgelöst
worden sei von einem der Metaphysik, und dieses von einem der
positiven Wissenschaften. Metaphysik ist also auch für ihn und
seine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der
Geschichte des fortschreitenden wissenschaftlichen Geistes, wie sie
es für Kant und seine Schule in Deutschland und für John Stuart
Mill in England ist.

Auch Kant hat sich geschichtlich mit der Metaphysik aus-
einandergesetzt, und dieser tiefsinnigste Geist, den die neueren euro-
päischen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der
Geschichte der Intelligenz ein nothwendiger, in der Natur des
menschlichen Erkenntnißvermögens selber begründeter Zusammenhang
bestehe. Der menschliche Geist durchlief drei Stadien; "das erste
war das Stadium des Dogmatism" (in den gewöhnlichen Sprach-
gebrauch übertragen: der Metaphysik), "das zweite das des Skep-
ticism, das dritte das des Kriticism der reinen Vernunft; diese
Zeitordnung ist in der Natur des menschlichen Erkenntnißvermögens
gegründet." 1) Der Knoten in diesem Drama des Erkenntnißvor-
gangs liegt nach Kant in der oben 2) entwickelten Natur der Ver-
nunft, aus ihr entspringt eine natürliche und unvermeidliche Illusion,
und so wird der menschliche Geist in den dialektischen Widerstreit
zwischen Dogmatism (Metaphysik) und Skepticism verwickelt, die
Auflösung dieses Widerstreits durch Erkenntnißtheorie ist aber der
Kriticism. 3)

Sowohl diese Theorie von Kant als die von Comte enthalten
eine einseitige Auffassung des Thatbestandes. Comte hat die histo-
rischen Beziehungen der Metaphysik zu demjenigen wichtigen Theil der
intellektuellen Bewegung, welchen Skepticismus, Selbstbesinnung
und Erkenntnißtheorie bilden, gar nicht untersucht; er hat

1) Kant 1, 493.
2) S. 163 f.
3) Kant 2, 241 ff.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
welche ſind die Beziehungen der Metaphyſik zu dem Zweckzu-
ſammenhang der intellektuellen Entwicklung und den dieſen aus-
machenden, anderen großen Thatſachen des geiſtigen Lebens?

Comte hat verſucht, dieſe Beziehungen in einem einfachen
Geſetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwick-
lung des Menſchengeſchlechts ein Stadium der Theologie abgelöſt
worden ſei von einem der Metaphyſik, und dieſes von einem der
poſitiven Wiſſenſchaften. Metaphyſik iſt alſo auch für ihn und
ſeine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der
Geſchichte des fortſchreitenden wiſſenſchaftlichen Geiſtes, wie ſie
es für Kant und ſeine Schule in Deutſchland und für John Stuart
Mill in England iſt.

Auch Kant hat ſich geſchichtlich mit der Metaphyſik aus-
einandergeſetzt, und dieſer tiefſinnigſte Geiſt, den die neueren euro-
päiſchen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der
Geſchichte der Intelligenz ein nothwendiger, in der Natur des
menſchlichen Erkenntnißvermögens ſelber begründeter Zuſammenhang
beſtehe. Der menſchliche Geiſt durchlief drei Stadien; „das erſte
war das Stadium des Dogmatism“ (in den gewöhnlichen Sprach-
gebrauch übertragen: der Metaphyſik), „das zweite das des Skep-
ticism, das dritte das des Kriticism der reinen Vernunft; dieſe
Zeitordnung iſt in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens
gegründet.“ 1) Der Knoten in dieſem Drama des Erkenntnißvor-
gangs liegt nach Kant in der oben 2) entwickelten Natur der Ver-
nunft, aus ihr entſpringt eine natürliche und unvermeidliche Illuſion,
und ſo wird der menſchliche Geiſt in den dialektiſchen Widerſtreit
zwiſchen Dogmatism (Metaphyſik) und Skepticism verwickelt, die
Auflöſung dieſes Widerſtreits durch Erkenntnißtheorie iſt aber der
Kriticism. 3)

Sowohl dieſe Theorie von Kant als die von Comte enthalten
eine einſeitige Auffaſſung des Thatbeſtandes. Comte hat die hiſto-
riſchen Beziehungen der Metaphyſik zu demjenigen wichtigen Theil der
intellektuellen Bewegung, welchen Skepticismus, Selbſtbeſinnung
und Erkenntnißtheorie bilden, gar nicht unterſucht; er hat

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3) Kant 2, 241 ff.
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[166/0189] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. welche ſind die Beziehungen der Metaphyſik zu dem Zweckzu- ſammenhang der intellektuellen Entwicklung und den dieſen aus- machenden, anderen großen Thatſachen des geiſtigen Lebens? Comte hat verſucht, dieſe Beziehungen in einem einfachen Geſetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwick- lung des Menſchengeſchlechts ein Stadium der Theologie abgelöſt worden ſei von einem der Metaphyſik, und dieſes von einem der poſitiven Wiſſenſchaften. Metaphyſik iſt alſo auch für ihn und ſeine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der Geſchichte des fortſchreitenden wiſſenſchaftlichen Geiſtes, wie ſie es für Kant und ſeine Schule in Deutſchland und für John Stuart Mill in England iſt. Auch Kant hat ſich geſchichtlich mit der Metaphyſik aus- einandergeſetzt, und dieſer tiefſinnigſte Geiſt, den die neueren euro- päiſchen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der Geſchichte der Intelligenz ein nothwendiger, in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens ſelber begründeter Zuſammenhang beſtehe. Der menſchliche Geiſt durchlief drei Stadien; „das erſte war das Stadium des Dogmatism“ (in den gewöhnlichen Sprach- gebrauch übertragen: der Metaphyſik), „das zweite das des Skep- ticism, das dritte das des Kriticism der reinen Vernunft; dieſe Zeitordnung iſt in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens gegründet.“ 1) Der Knoten in dieſem Drama des Erkenntnißvor- gangs liegt nach Kant in der oben 2) entwickelten Natur der Ver- nunft, aus ihr entſpringt eine natürliche und unvermeidliche Illuſion, und ſo wird der menſchliche Geiſt in den dialektiſchen Widerſtreit zwiſchen Dogmatism (Metaphyſik) und Skepticism verwickelt, die Auflöſung dieſes Widerſtreits durch Erkenntnißtheorie iſt aber der Kriticism. 3) Sowohl dieſe Theorie von Kant als die von Comte enthalten eine einſeitige Auffaſſung des Thatbeſtandes. Comte hat die hiſto- riſchen Beziehungen der Metaphyſik zu demjenigen wichtigen Theil der intellektuellen Bewegung, welchen Skepticismus, Selbſtbeſinnung und Erkenntnißtheorie bilden, gar nicht unterſucht; er hat 1) Kant 1, 493. 2) S. 163 f. 3) Kant 2, 241 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/189>, abgerufen am 03.05.2024.