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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
der in ihm herrschenden Ordnung." 1) Dieses Wort ist gleichsam
der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den
harmonischen Zusammenhang der Verhältnisse und Bewegungen des
Weltalls vertieften griechischen Intelligenz. In ihm spricht sich
der ästhetische Charakter des griechischen Geistes so ursprünglich
und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles
bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines will-
kürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem
schönen, regelmäßigen Formenzusammenhang des Kosmos. In
demselben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regel-
mäßig wirkenden Formen geordneten Gesellschaft auf die Ver-
hältnisse des Weltalls die Ausdrücke Gesetz und vernünftige
Rede
übertragen 2).

Aber die Art und Weise der Ableitung von Phä-
nomenen, wie sie in dieser Wissenschaft vom Weltall bestand,
konnte den fortschreitenden Anforderungen des Er-
kennens nicht genügen
. Wird irgend einem Bestandtheil
des Naturganzen Leben, Fähigkeit, sich in andere Bestandtheile
umzuwandeln, sich auszudehnen und zusammenzuziehen, zu-
geschrieben, alsdann ist es gleichgültig, von welchem dieser
Bestandtheile die Erklärung ausgeht; denn Alles kann so aus
Allem abgeleitet werden. Und hatten nicht diese Physiker wech-
selnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Wasser, Feuer, Luft
aus die anderen Theile des Naturzusammenhangs durch Um-
wandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation diese
Anschauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen
Eigenschaft jedes Zustandes im Weltall; in Parmenides stellt
sie diesem endlosen Wechsel die Anforderungen des Gedankens
gegenüber. So entsprang Metaphysik im engeren Verstande.



1) Ps. Plutarch, de plac. II, 1. Stob. ecl. I, 21 p. 450 Heer. --
Diels 327.
2) nomos. logos.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
der in ihm herrſchenden Ordnung.“ 1) Dieſes Wort iſt gleichſam
der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den
harmoniſchen Zuſammenhang der Verhältniſſe und Bewegungen des
Weltalls vertieften griechiſchen Intelligenz. In ihm ſpricht ſich
der äſthetiſche Charakter des griechiſchen Geiſtes ſo urſprünglich
und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles
bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines will-
kürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem
ſchönen, regelmäßigen Formenzuſammenhang des Kosmos. In
demſelben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regel-
mäßig wirkenden Formen geordneten Geſellſchaft auf die Ver-
hältniſſe des Weltalls die Ausdrücke Geſetz und vernünftige
Rede
übertragen 2).

Aber die Art und Weiſe der Ableitung von Phä-
nomenen, wie ſie in dieſer Wiſſenſchaft vom Weltall beſtand,
konnte den fortſchreitenden Anforderungen des Er-
kennens nicht genügen
. Wird irgend einem Beſtandtheil
des Naturganzen Leben, Fähigkeit, ſich in andere Beſtandtheile
umzuwandeln, ſich auszudehnen und zuſammenzuziehen, zu-
geſchrieben, alsdann iſt es gleichgültig, von welchem dieſer
Beſtandtheile die Erklärung ausgeht; denn Alles kann ſo aus
Allem abgeleitet werden. Und hatten nicht dieſe Phyſiker wech-
ſelnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Waſſer, Feuer, Luft
aus die anderen Theile des Naturzuſammenhangs durch Um-
wandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation dieſe
Anſchauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen
Eigenſchaft jedes Zuſtandes im Weltall; in Parmenides ſtellt
ſie dieſem endloſen Wechſel die Anforderungen des Gedankens
gegenüber. So entſprang Metaphyſik im engeren Verſtande.



1) Ps. Plutarch, de plac. II, 1. Stob. ecl. I, 21 p. 450 Heer. —
Diels 327.
2) νόμος. λόγος.
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[186/0209] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. der in ihm herrſchenden Ordnung.“ 1) Dieſes Wort iſt gleichſam der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den harmoniſchen Zuſammenhang der Verhältniſſe und Bewegungen des Weltalls vertieften griechiſchen Intelligenz. In ihm ſpricht ſich der äſthetiſche Charakter des griechiſchen Geiſtes ſo urſprünglich und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines will- kürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem ſchönen, regelmäßigen Formenzuſammenhang des Kosmos. In demſelben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regel- mäßig wirkenden Formen geordneten Geſellſchaft auf die Ver- hältniſſe des Weltalls die Ausdrücke Geſetz und vernünftige Rede übertragen 2). Aber die Art und Weiſe der Ableitung von Phä- nomenen, wie ſie in dieſer Wiſſenſchaft vom Weltall beſtand, konnte den fortſchreitenden Anforderungen des Er- kennens nicht genügen. Wird irgend einem Beſtandtheil des Naturganzen Leben, Fähigkeit, ſich in andere Beſtandtheile umzuwandeln, ſich auszudehnen und zuſammenzuziehen, zu- geſchrieben, alsdann iſt es gleichgültig, von welchem dieſer Beſtandtheile die Erklärung ausgeht; denn Alles kann ſo aus Allem abgeleitet werden. Und hatten nicht dieſe Phyſiker wech- ſelnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Waſſer, Feuer, Luft aus die anderen Theile des Naturzuſammenhangs durch Um- wandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation dieſe Anſchauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen Eigenſchaft jedes Zuſtandes im Weltall; in Parmenides ſtellt ſie dieſem endloſen Wechſel die Anforderungen des Gedankens gegenüber. So entſprang Metaphyſik im engeren Verſtande. 1) Ps. Plutarch, de plac. II, 1. Stob. ecl. I, 21 p. 450 Heer. — Diels 327. 2) νόμος. λόγος.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/209>, abgerufen am 28.04.2024.