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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Protagoras.
Thatsache untergeordnet wurde. Sie enthalten daher nicht unseren
heutigen, kritischen Standpunkt. Vielmehr sind sie nur die Formel
für seine geniale Wahrnehmungslehre, die sich augenscheinlich unter
dem Eindruck der medicinischen Betrachtungen seiner Zeit entwickelt
hatte, und sie beschränken sich im Zusammenhang derselben auf
die prädikativen Bestimmungen über die Außenwelt, dagegen stellen
sie nicht die Realität einer solchen in Frage. -- Wir erläutern
das näher. Der Obersatz des Schlusses, welcher zu seiner Formel
führte, war: Wissen ist äußeres Wahrnehmen. Wir können nicht
mehr feststellen, ob dieser Obersatz die von ihm nicht aus-
drücklich zum Bewußtsein gebrachte Voraussetzung seines Stand-
punktes war oder ob derselbe von ihm in bewußter Klarheit
hingestellt wurde. Der Untersatz zeigte an dem Vorgang der
Wahrnehmung, daß diese von ihrem Gegenstand nicht getrennt
werden könne, der Gegenstand nicht von ihr d. h. das wahr-
genommene Objekt nicht von dem wahrnehmenden Subjekt, für
welches es da ist. So ist Protagoras der Begründer der
Theorie des Relativismus, welche nachher von den Skeptikern fort-
gebildet worden ist 1). -- Aber dieser sein Relativismus behauptete
zwar von den Qualitäten der Dinge, daß sie nur in der Relation
bestünden, dagegen nicht von der Dinglichkeit selber. Süß,
wenn man das Subjekt wegdenkt, welches die Süßigkeit schmeckt,
ist nichts mehr; es besteht nur in der Relation auf die Em-
pfindung. Daß ihm aber mit dieser Empfindung des Süßen
nicht das Objekt selber verschwand, zeigt seine nähere Theorie der
Wahrnehmung. Berührt ein Objekt das Sinnesorgan und ver-
hält sich so jenes thätig, dieses leidend: so entsteht einerseits in
diesem Sinnesorgan Sehen, Hören, die bestimmte sinnliche Em-
pfindung, andrerseits erscheint nunmehr das Objekt als farbig,
tönend, kurz in verschiedenen sinnlichen Qualitäten. Diese Er-
klärung des Vorgangs ermöglichte dem Relativismus des Prota-
goras erst eine Theorie der Wahrnehmung, und man sieht wol,

1) Schon Sextus Empiricus bezeichnet ihn als Relativisten, adv.
Math. VII, 60:
phesi ... ton pros ti einai ten aletheian.

Protagoras.
Thatſache untergeordnet wurde. Sie enthalten daher nicht unſeren
heutigen, kritiſchen Standpunkt. Vielmehr ſind ſie nur die Formel
für ſeine geniale Wahrnehmungslehre, die ſich augenſcheinlich unter
dem Eindruck der mediciniſchen Betrachtungen ſeiner Zeit entwickelt
hatte, und ſie beſchränken ſich im Zuſammenhang derſelben auf
die prädikativen Beſtimmungen über die Außenwelt, dagegen ſtellen
ſie nicht die Realität einer ſolchen in Frage. — Wir erläutern
das näher. Der Oberſatz des Schluſſes, welcher zu ſeiner Formel
führte, war: Wiſſen iſt äußeres Wahrnehmen. Wir können nicht
mehr feſtſtellen, ob dieſer Oberſatz die von ihm nicht aus-
drücklich zum Bewußtſein gebrachte Vorausſetzung ſeines Stand-
punktes war oder ob derſelbe von ihm in bewußter Klarheit
hingeſtellt wurde. Der Unterſatz zeigte an dem Vorgang der
Wahrnehmung, daß dieſe von ihrem Gegenſtand nicht getrennt
werden könne, der Gegenſtand nicht von ihr d. h. das wahr-
genommene Objekt nicht von dem wahrnehmenden Subjekt, für
welches es da iſt. So iſt Protagoras der Begründer der
Theorie des Relativismus, welche nachher von den Skeptikern fort-
gebildet worden iſt 1). — Aber dieſer ſein Relativismus behauptete
zwar von den Qualitäten der Dinge, daß ſie nur in der Relation
beſtünden, dagegen nicht von der Dinglichkeit ſelber. Süß,
wenn man das Subjekt wegdenkt, welches die Süßigkeit ſchmeckt,
iſt nichts mehr; es beſteht nur in der Relation auf die Em-
pfindung. Daß ihm aber mit dieſer Empfindung des Süßen
nicht das Objekt ſelber verſchwand, zeigt ſeine nähere Theorie der
Wahrnehmung. Berührt ein Objekt das Sinnesorgan und ver-
hält ſich ſo jenes thätig, dieſes leidend: ſo entſteht einerſeits in
dieſem Sinnesorgan Sehen, Hören, die beſtimmte ſinnliche Em-
pfindung, andrerſeits erſcheint nunmehr das Objekt als farbig,
tönend, kurz in verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten. Dieſe Er-
klärung des Vorgangs ermöglichte dem Relativismus des Prota-
goras erſt eine Theorie der Wahrnehmung, und man ſieht wol,

1) Schon Sextus Empiricus bezeichnet ihn als Relativiſten, adv.
Math. VII, 60:
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[219/0242] Protagoras. Thatſache untergeordnet wurde. Sie enthalten daher nicht unſeren heutigen, kritiſchen Standpunkt. Vielmehr ſind ſie nur die Formel für ſeine geniale Wahrnehmungslehre, die ſich augenſcheinlich unter dem Eindruck der mediciniſchen Betrachtungen ſeiner Zeit entwickelt hatte, und ſie beſchränken ſich im Zuſammenhang derſelben auf die prädikativen Beſtimmungen über die Außenwelt, dagegen ſtellen ſie nicht die Realität einer ſolchen in Frage. — Wir erläutern das näher. Der Oberſatz des Schluſſes, welcher zu ſeiner Formel führte, war: Wiſſen iſt äußeres Wahrnehmen. Wir können nicht mehr feſtſtellen, ob dieſer Oberſatz die von ihm nicht aus- drücklich zum Bewußtſein gebrachte Vorausſetzung ſeines Stand- punktes war oder ob derſelbe von ihm in bewußter Klarheit hingeſtellt wurde. Der Unterſatz zeigte an dem Vorgang der Wahrnehmung, daß dieſe von ihrem Gegenſtand nicht getrennt werden könne, der Gegenſtand nicht von ihr d. h. das wahr- genommene Objekt nicht von dem wahrnehmenden Subjekt, für welches es da iſt. So iſt Protagoras der Begründer der Theorie des Relativismus, welche nachher von den Skeptikern fort- gebildet worden iſt 1). — Aber dieſer ſein Relativismus behauptete zwar von den Qualitäten der Dinge, daß ſie nur in der Relation beſtünden, dagegen nicht von der Dinglichkeit ſelber. Süß, wenn man das Subjekt wegdenkt, welches die Süßigkeit ſchmeckt, iſt nichts mehr; es beſteht nur in der Relation auf die Em- pfindung. Daß ihm aber mit dieſer Empfindung des Süßen nicht das Objekt ſelber verſchwand, zeigt ſeine nähere Theorie der Wahrnehmung. Berührt ein Objekt das Sinnesorgan und ver- hält ſich ſo jenes thätig, dieſes leidend: ſo entſteht einerſeits in dieſem Sinnesorgan Sehen, Hören, die beſtimmte ſinnliche Em- pfindung, andrerſeits erſcheint nunmehr das Objekt als farbig, tönend, kurz in verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten. Dieſe Er- klärung des Vorgangs ermöglichte dem Relativismus des Prota- goras erſt eine Theorie der Wahrnehmung, und man ſieht wol, 1) Schon Sextus Empiricus bezeichnet ihn als Relativiſten, adv. Math. VII, 60: φησὶ … τῶν πϱός τι εἶναι τὴν ἀλήϑειαν.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/242>, abgerufen am 06.05.2024.