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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Leistungen d. Aristoteles u. seiner Schule f. das Studium d. Gesellschaft.
kann, sondern in der Hauptsache auf unvollkommene Zweckvor-
stellungen angewiesen ist. So schloß Aristoteles voreilig auf die
Naturnothwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Physis an-
gelegte Ungleichheit der Menschen annahm, ohne ihren Ursprung
in geschichtlichen Verhältnissen und die hierdurch gegebene Mög-
lichkeit einer Ueberwindung derselben zu erwägen. So hat er die
Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzusammenhang
Entsprechenden von den Abweichungen, wie dieselbe in seiner
Physik so viel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fort-
geführt; seine Sonderung der vollkommenen von den entarteten
Verfassungen muß als willkürliche Konstruktion einer Wirklichkeit,
die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meisten verhäng-
nißvoll wirkte die Einseitigkeit, mit welcher er in der Verfassung
den Staat sah. Der politische Formalismus des Aristoteles ist für
die realistische Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd gewesen.

Aristoteles und die aristotelische Schule bilden aber weiter
den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Thätigkeit von Samm-
lung, Geschichtschreibung und Theorie, welche über die Staats-
wissenschaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung,
Beredsamkeit, wissenschaftliches Denken und sittliches Leben finden
wir Geschichtschreibung der Wissenschaften, der Kunstthätigkeit, der
religiösen Vorstellungen in der aristotelischen Schule. Ja Dikäarch
geht in seinem bios Ellados schon zu einer kulturgeschichtlichen
Betrachtungsweise fort; er sondert das fabelhafte goldene Zeitalter
eines mäßigen friedlichen Naturzustandes, das Auftreten des
Nomadenlebens und als eine weitere geschichtliche Stufe die Seß-
haftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedin-
gungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechischen Lebens,
in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feste und Verfassungen in einer
inneren Verbindung gesehen werden. So stehen die Leistungen
der aristotelischen Schule für die Geisteswissenschaften in keiner
Weise hinter denen für die Naturwissenschaften zurück.

Bezeichnen wir schließlich die Stellung des Studiums
der menschlichen Gesellschaft
innerhalb des Zusammen-
hangs
der Wissenschaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie

Leiſtungen d. Ariſtoteles u. ſeiner Schule f. das Studium d. Geſellſchaft.
kann, ſondern in der Hauptſache auf unvollkommene Zweckvor-
ſtellungen angewieſen iſt. So ſchloß Ariſtoteles voreilig auf die
Naturnothwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Phyſis an-
gelegte Ungleichheit der Menſchen annahm, ohne ihren Urſprung
in geſchichtlichen Verhältniſſen und die hierdurch gegebene Mög-
lichkeit einer Ueberwindung derſelben zu erwägen. So hat er die
Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzuſammenhang
Entſprechenden von den Abweichungen, wie dieſelbe in ſeiner
Phyſik ſo viel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fort-
geführt; ſeine Sonderung der vollkommenen von den entarteten
Verfaſſungen muß als willkürliche Konſtruktion einer Wirklichkeit,
die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meiſten verhäng-
nißvoll wirkte die Einſeitigkeit, mit welcher er in der Verfaſſung
den Staat ſah. Der politiſche Formalismus des Ariſtoteles iſt für
die realiſtiſche Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd geweſen.

Ariſtoteles und die ariſtoteliſche Schule bilden aber weiter
den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Thätigkeit von Samm-
lung, Geſchichtſchreibung und Theorie, welche über die Staats-
wiſſenſchaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung,
Beredſamkeit, wiſſenſchaftliches Denken und ſittliches Leben finden
wir Geſchichtſchreibung der Wiſſenſchaften, der Kunſtthätigkeit, der
religiöſen Vorſtellungen in der ariſtoteliſchen Schule. Ja Dikäarch
geht in ſeinem βίος Ἑλλάδος ſchon zu einer kulturgeſchichtlichen
Betrachtungsweiſe fort; er ſondert das fabelhafte goldene Zeitalter
eines mäßigen friedlichen Naturzuſtandes, das Auftreten des
Nomadenlebens und als eine weitere geſchichtliche Stufe die Seß-
haftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedin-
gungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechiſchen Lebens,
in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feſte und Verfaſſungen in einer
inneren Verbindung geſehen werden. So ſtehen die Leiſtungen
der ariſtoteliſchen Schule für die Geiſteswiſſenſchaften in keiner
Weiſe hinter denen für die Naturwiſſenſchaften zurück.

Bezeichnen wir ſchließlich die Stellung des Studiums
der menſchlichen Geſellſchaft
innerhalb des Zuſammen-
hangs
der Wiſſenſchaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie

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[295/0318] Leiſtungen d. Ariſtoteles u. ſeiner Schule f. das Studium d. Geſellſchaft. kann, ſondern in der Hauptſache auf unvollkommene Zweckvor- ſtellungen angewieſen iſt. So ſchloß Ariſtoteles voreilig auf die Naturnothwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Phyſis an- gelegte Ungleichheit der Menſchen annahm, ohne ihren Urſprung in geſchichtlichen Verhältniſſen und die hierdurch gegebene Mög- lichkeit einer Ueberwindung derſelben zu erwägen. So hat er die Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzuſammenhang Entſprechenden von den Abweichungen, wie dieſelbe in ſeiner Phyſik ſo viel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fort- geführt; ſeine Sonderung der vollkommenen von den entarteten Verfaſſungen muß als willkürliche Konſtruktion einer Wirklichkeit, die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meiſten verhäng- nißvoll wirkte die Einſeitigkeit, mit welcher er in der Verfaſſung den Staat ſah. Der politiſche Formalismus des Ariſtoteles iſt für die realiſtiſche Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd geweſen. Ariſtoteles und die ariſtoteliſche Schule bilden aber weiter den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Thätigkeit von Samm- lung, Geſchichtſchreibung und Theorie, welche über die Staats- wiſſenſchaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung, Beredſamkeit, wiſſenſchaftliches Denken und ſittliches Leben finden wir Geſchichtſchreibung der Wiſſenſchaften, der Kunſtthätigkeit, der religiöſen Vorſtellungen in der ariſtoteliſchen Schule. Ja Dikäarch geht in ſeinem βίος Ἑλλάδος ſchon zu einer kulturgeſchichtlichen Betrachtungsweiſe fort; er ſondert das fabelhafte goldene Zeitalter eines mäßigen friedlichen Naturzuſtandes, das Auftreten des Nomadenlebens und als eine weitere geſchichtliche Stufe die Seß- haftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedin- gungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechiſchen Lebens, in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feſte und Verfaſſungen in einer inneren Verbindung geſehen werden. So ſtehen die Leiſtungen der ariſtoteliſchen Schule für die Geiſteswiſſenſchaften in keiner Weiſe hinter denen für die Naturwiſſenſchaften zurück. Bezeichnen wir ſchließlich die Stellung des Studiums der menſchlichen Geſellſchaft innerhalb des Zuſammen- hangs der Wiſſenſchaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/318>, abgerufen am 03.05.2024.