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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Herzen der Menschen. Ihre Zeit ist vergangen. Und das
Schweigen des Todes ruht heute auf dem weiten Raum dieser
Ruinen.

Das christliche Abendland, um Allzubekanntes nur zu
berühren, rang von den Vätern ab vergeblich mit den Antinomien
zwischen der Unveränderlichkeit Gottes und der Rückwirkung der
menschlichen Handlungen auf den göttlichen Willen, zwischen dem
Vorherwissen der Handlungen in Gott und der Freiheit des
Menschen, sie zu thun und zu lassen, zwischen der Allmacht und
dem menschlichen Willen 1). Lange war im Abendlande das Ge-
tümmel des pelagianischen Streites verhallt und die Willensfrei-
heit, die Verantwortlichkeit des Menschen, damit seine Selbstän-
digkeit, waren der Tendenz der katholischen Kirche, alles Gute in der
Menschenwelt von Gott durch die Organe der Kirche herabfließend
vorzustellen, bis auf einen ungenügenden Rest zum Opfer gefallen,
als in den Ländern des Islam derselbe Streit ausbrach.
Die Rationalisten des Islam, die Mutaziliten 2), gingen von den
inneren Problemen der Religion aus, wenn sie auch alsdann für
deren Lösung die griechische Wissenschaft zu Hilfe nahmen, ja viel-
leicht von der Theologie und den Sekten der Christen mit beeinflußt
waren 3). Durch den Koran zieht sich der Widerspruch zwischen

1) Nach dem Streit, in welchem Gottschalk vermittelst des Begriffs
der Unveränderlichkeit Gottes die Freiheit des Menschen aufhob, Scotus
Erigena sie mit der Nothwendigkeit in eins setzte, hat Anselm dies Problem
in den zwei Schriften de libero arbitrio und de concordia praescientiae
et praedestinationis cum libero arbitrio
am tiefsten behandelt.
2) Mutazila bezeichnet eine von einer größeren Gesammtheit sich ab-
trennende Schaar, eine Sekte. Der Name wurde auf die bedeutendste unter
den Sekten des Islam übertragen. Vgl. Steiner, die Mutaziliten S. 24 ff.
Nach dem Inhalte des Streites angesehen, wurden die Vertheidiger der
menschlichen Willensfreiheit Kadarija genannt. Vgl. ebds. 26 ff. und Munk
Melanges de philosophie juive et arabe p. 310. Bericht über sie in
Schahrastanis Religionsparteien und Philosophenschulen, übersetzt von Haar-
brücker I, 12 ff. 40 ff. 84 ff. II, 386 ff. 393 ff.
3) Die Vergleichung des Sektenlebens hüben und drüben drängt diese
Ansicht auf und die historischen Verhältnisse machen sie wahrscheinlich.
Munk Melanges p. 312.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Herzen der Menſchen. Ihre Zeit iſt vergangen. Und das
Schweigen des Todes ruht heute auf dem weiten Raum dieſer
Ruinen.

Das chriſtliche Abendland, um Allzubekanntes nur zu
berühren, rang von den Vätern ab vergeblich mit den Antinomien
zwiſchen der Unveränderlichkeit Gottes und der Rückwirkung der
menſchlichen Handlungen auf den göttlichen Willen, zwiſchen dem
Vorherwiſſen der Handlungen in Gott und der Freiheit des
Menſchen, ſie zu thun und zu laſſen, zwiſchen der Allmacht und
dem menſchlichen Willen 1). Lange war im Abendlande das Ge-
tümmel des pelagianiſchen Streites verhallt und die Willensfrei-
heit, die Verantwortlichkeit des Menſchen, damit ſeine Selbſtän-
digkeit, waren der Tendenz der katholiſchen Kirche, alles Gute in der
Menſchenwelt von Gott durch die Organe der Kirche herabfließend
vorzuſtellen, bis auf einen ungenügenden Reſt zum Opfer gefallen,
als in den Ländern des Islam derſelbe Streit ausbrach.
Die Rationaliſten des Islam, die Mutaziliten 2), gingen von den
inneren Problemen der Religion aus, wenn ſie auch alsdann für
deren Löſung die griechiſche Wiſſenſchaft zu Hilfe nahmen, ja viel-
leicht von der Theologie und den Sekten der Chriſten mit beeinflußt
waren 3). Durch den Koran zieht ſich der Widerſpruch zwiſchen

1) Nach dem Streit, in welchem Gottſchalk vermittelſt des Begriffs
der Unveränderlichkeit Gottes die Freiheit des Menſchen aufhob, Scotus
Erigena ſie mit der Nothwendigkeit in eins ſetzte, hat Anſelm dies Problem
in den zwei Schriften de libero arbitrio und de concordia praescientiae
et praedestinationis cum libero arbitrio
am tiefſten behandelt.
2) Mutazila bezeichnet eine von einer größeren Geſammtheit ſich ab-
trennende Schaar, eine Sekte. Der Name wurde auf die bedeutendſte unter
den Sekten des Islam übertragen. Vgl. Steiner, die Mutaziliten S. 24 ff.
Nach dem Inhalte des Streites angeſehen, wurden die Vertheidiger der
menſchlichen Willensfreiheit Kadarija genannt. Vgl. ebdſ. 26 ff. und Munk
Mélanges de philosophie juive et arabe p. 310. Bericht über ſie in
Schahraſtanis Religionsparteien und Philoſophenſchulen, überſetzt von Haar-
brücker I, 12 ff. 40 ff. 84 ff. II, 386 ff. 393 ff.
3) Die Vergleichung des Sektenlebens hüben und drüben drängt dieſe
Anſicht auf und die hiſtoriſchen Verhältniſſe machen ſie wahrſcheinlich.
Munk Mélanges p. 312.
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[354/0377] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Herzen der Menſchen. Ihre Zeit iſt vergangen. Und das Schweigen des Todes ruht heute auf dem weiten Raum dieſer Ruinen. Das chriſtliche Abendland, um Allzubekanntes nur zu berühren, rang von den Vätern ab vergeblich mit den Antinomien zwiſchen der Unveränderlichkeit Gottes und der Rückwirkung der menſchlichen Handlungen auf den göttlichen Willen, zwiſchen dem Vorherwiſſen der Handlungen in Gott und der Freiheit des Menſchen, ſie zu thun und zu laſſen, zwiſchen der Allmacht und dem menſchlichen Willen 1). Lange war im Abendlande das Ge- tümmel des pelagianiſchen Streites verhallt und die Willensfrei- heit, die Verantwortlichkeit des Menſchen, damit ſeine Selbſtän- digkeit, waren der Tendenz der katholiſchen Kirche, alles Gute in der Menſchenwelt von Gott durch die Organe der Kirche herabfließend vorzuſtellen, bis auf einen ungenügenden Reſt zum Opfer gefallen, als in den Ländern des Islam derſelbe Streit ausbrach. Die Rationaliſten des Islam, die Mutaziliten 2), gingen von den inneren Problemen der Religion aus, wenn ſie auch alsdann für deren Löſung die griechiſche Wiſſenſchaft zu Hilfe nahmen, ja viel- leicht von der Theologie und den Sekten der Chriſten mit beeinflußt waren 3). Durch den Koran zieht ſich der Widerſpruch zwiſchen 1) Nach dem Streit, in welchem Gottſchalk vermittelſt des Begriffs der Unveränderlichkeit Gottes die Freiheit des Menſchen aufhob, Scotus Erigena ſie mit der Nothwendigkeit in eins ſetzte, hat Anſelm dies Problem in den zwei Schriften de libero arbitrio und de concordia praescientiae et praedestinationis cum libero arbitrio am tiefſten behandelt. 2) Mutazila bezeichnet eine von einer größeren Geſammtheit ſich ab- trennende Schaar, eine Sekte. Der Name wurde auf die bedeutendſte unter den Sekten des Islam übertragen. Vgl. Steiner, die Mutaziliten S. 24 ff. Nach dem Inhalte des Streites angeſehen, wurden die Vertheidiger der menſchlichen Willensfreiheit Kadarija genannt. Vgl. ebdſ. 26 ff. und Munk Mélanges de philosophie juive et arabe p. 310. Bericht über ſie in Schahraſtanis Religionsparteien und Philoſophenſchulen, überſetzt von Haar- brücker I, 12 ff. 40 ff. 84 ff. II, 386 ff. 393 ff. 3) Die Vergleichung des Sektenlebens hüben und drüben drängt dieſe Anſicht auf und die hiſtoriſchen Verhältniſſe machen ſie wahrſcheinlich. Munk Mélanges p. 312.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/377>, abgerufen am 07.05.2024.