Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweite Antinomie zwischen der religiösen Erfahrung und dem Vorstellen.
Leben stellt, kein System im Vorstellen entworfener Formeln ent-
sprechen. Zwischen der Idee Gottes, wie sie in der religiösen
Erfahrung
gegeben ist, und den Bedingungen des Vor-
stellens
besteht eine innere Heterogeneität, und diese bringt
die Antinomie in der Vorstellung des höchsten Wesens hervor.
Der Nachweis dieses Thatbestandes liegt zunächst in der Dar-
legung der fruchtlosen Verstandesarbeit, welche seit dem Mittelalter
vollbracht worden ist, und wird später durch psychologische Be-
trachtung ergänzt werden können.

Das gesammte Mittelalter ringt auch mit dieser zweiten Klasse
von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann dieselben
durch die theologische Metaphysik des Judenthums, des Christen-
thums und des Islam hindurch verfolgen. -- Und zwar findet
eine Antinomie statt zwischen der Idee Gottes und ihrer Dar-
stellung
in den Formeln des Vorstellens durch Eigen-
schaften
. Die Thesis wird durch die Aussagen über Eigen-
schaften Gottes gebildet, diese Aussagen sind innerhalb des Vor-
stellens nothwendig, und werden sie aufgehoben, so wird die
Vorstellung Gottes selber mit ihnen aufgehoben. Die Antithesis
besteht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht
gesondert sind, Eigenschaften Gottes aber Prädikate desselben sein
würden, so müssen Gott Eigenschaften abgesprochen werden; da
Gott einfach ist, die Verschiedenheit der Eigenschaften aber in
ihm ein Mehrfaches setzen würde, so können auch aus diesem
Grunde von Gott Eigenschaften nicht ausgesagt werden; und
da Gott Vollkommenheit ist, jede Eigenschaft aber ein Begrenztes
ausdrücken würde, so ergiebt sich noch einmal die Unangemessen-
heit der Annahme von Eigenschaften Gottes 1). -- Eine Reihe

1) Die Thesis wird so oft ausgesprochen, daß Belege überflüssig sind,
die Antithesis ging besonders aus der neuplatonischen Schule vermittelst des
Areopagiten Dionysius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter-
liche Schriftsteller über, vgl. Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. p. 463 B
c.
73 ff. p. 518 A. Abälard theolog. christ. lib. III p. 1241 B ff. Anselm
Monolog. c. 17 p. 166 A. -- Die Antinomie wird aus dem älteren
Material sehr klar formulirt von Thomas, summa theol. p. I quaest.
13 art. 12.

Zweite Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.
Leben ſtellt, kein Syſtem im Vorſtellen entworfener Formeln ent-
ſprechen. Zwiſchen der Idee Gottes, wie ſie in der religiöſen
Erfahrung
gegeben iſt, und den Bedingungen des Vor-
ſtellens
beſteht eine innere Heterogeneität, und dieſe bringt
die Antinomie in der Vorſtellung des höchſten Weſens hervor.
Der Nachweis dieſes Thatbeſtandes liegt zunächſt in der Dar-
legung der fruchtloſen Verſtandesarbeit, welche ſeit dem Mittelalter
vollbracht worden iſt, und wird ſpäter durch pſychologiſche Be-
trachtung ergänzt werden können.

Das geſammte Mittelalter ringt auch mit dieſer zweiten Klaſſe
von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann dieſelben
durch die theologiſche Metaphyſik des Judenthums, des Chriſten-
thums und des Islam hindurch verfolgen. — Und zwar findet
eine Antinomie ſtatt zwiſchen der Idee Gottes und ihrer Dar-
ſtellung
in den Formeln des Vorſtellens durch Eigen-
ſchaften
. Die Theſis wird durch die Ausſagen über Eigen-
ſchaften Gottes gebildet, dieſe Ausſagen ſind innerhalb des Vor-
ſtellens nothwendig, und werden ſie aufgehoben, ſo wird die
Vorſtellung Gottes ſelber mit ihnen aufgehoben. Die Antitheſis
beſteht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht
geſondert ſind, Eigenſchaften Gottes aber Prädikate deſſelben ſein
würden, ſo müſſen Gott Eigenſchaften abgeſprochen werden; da
Gott einfach iſt, die Verſchiedenheit der Eigenſchaften aber in
ihm ein Mehrfaches ſetzen würde, ſo können auch aus dieſem
Grunde von Gott Eigenſchaften nicht ausgeſagt werden; und
da Gott Vollkommenheit iſt, jede Eigenſchaft aber ein Begrenztes
ausdrücken würde, ſo ergiebt ſich noch einmal die Unangemeſſen-
heit der Annahme von Eigenſchaften Gottes 1). — Eine Reihe

1) Die Theſis wird ſo oft ausgeſprochen, daß Belege überflüſſig ſind,
die Antitheſis ging beſonders aus der neuplatoniſchen Schule vermittelſt des
Areopagiten Dionyſius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter-
liche Schriftſteller über, vgl. Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. p. 463 B
c.
73 ff. p. 518 A. Abälard theolog. christ. lib. III p. 1241 B ff. Anſelm
Monolog. c. 17 p. 166 A. — Die Antinomie wird aus dem älteren
Material ſehr klar formulirt von Thomas, summa theol. p. I quaest.
13 art. 12.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0386" n="363"/><fw place="top" type="header">Zweite Antinomie zwi&#x017F;chen der religiö&#x017F;en Erfahrung und dem Vor&#x017F;tellen.</fw><lb/>
Leben &#x017F;tellt, kein Sy&#x017F;tem im Vor&#x017F;tellen entworfener Formeln ent-<lb/>
&#x017F;prechen. Zwi&#x017F;chen der Idee Gottes, wie &#x017F;ie in der <hi rendition="#g">religiö&#x017F;en<lb/>
Erfahrung</hi> gegeben i&#x017F;t, und den <hi rendition="#g">Bedingungen</hi> des <hi rendition="#g">Vor-<lb/>
&#x017F;tellens</hi> be&#x017F;teht eine innere <hi rendition="#g">Heterogeneität</hi>, und die&#x017F;e bringt<lb/>
die Antinomie in der Vor&#x017F;tellung des höch&#x017F;ten We&#x017F;ens hervor.<lb/>
Der Nachweis die&#x017F;es Thatbe&#x017F;tandes liegt zunäch&#x017F;t in der Dar-<lb/>
legung der fruchtlo&#x017F;en Ver&#x017F;tandesarbeit, welche &#x017F;eit dem Mittelalter<lb/>
vollbracht worden i&#x017F;t, und wird &#x017F;päter durch p&#x017F;ychologi&#x017F;che Be-<lb/>
trachtung ergänzt werden können.</p><lb/>
              <p>Das ge&#x017F;ammte Mittelalter ringt auch mit die&#x017F;er zweiten Kla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann die&#x017F;elben<lb/>
durch die theologi&#x017F;che Metaphy&#x017F;ik des Judenthums, des Chri&#x017F;ten-<lb/>
thums und des Islam hindurch verfolgen. &#x2014; Und zwar findet<lb/>
eine Antinomie &#x017F;tatt zwi&#x017F;chen der <hi rendition="#g">Idee Gottes</hi> und ihrer <hi rendition="#g">Dar-<lb/>
&#x017F;tellung</hi> in den <hi rendition="#g">Formeln</hi> des <hi rendition="#g">Vor&#x017F;tellens</hi> durch <hi rendition="#g">Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften</hi>. Die The&#x017F;is wird durch die Aus&#x017F;agen über Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften Gottes gebildet, die&#x017F;e Aus&#x017F;agen &#x017F;ind innerhalb des Vor-<lb/>
&#x017F;tellens nothwendig, und werden &#x017F;ie aufgehoben, &#x017F;o wird die<lb/>
Vor&#x017F;tellung Gottes &#x017F;elber mit ihnen aufgehoben. Die Antithe&#x017F;is<lb/>
be&#x017F;teht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht<lb/>
ge&#x017F;ondert &#x017F;ind, Eigen&#x017F;chaften Gottes aber Prädikate de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;ein<lb/>
würden, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en Gott Eigen&#x017F;chaften abge&#x017F;prochen werden; da<lb/>
Gott einfach i&#x017F;t, die Ver&#x017F;chiedenheit der Eigen&#x017F;chaften aber in<lb/>
ihm ein Mehrfaches &#x017F;etzen würde, &#x017F;o können auch aus die&#x017F;em<lb/>
Grunde von Gott Eigen&#x017F;chaften nicht ausge&#x017F;agt werden; und<lb/>
da Gott Vollkommenheit i&#x017F;t, jede Eigen&#x017F;chaft aber ein Begrenztes<lb/>
ausdrücken würde, &#x017F;o ergiebt &#x017F;ich noch einmal die Unangeme&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
heit der Annahme von Eigen&#x017F;chaften Gottes <note place="foot" n="1)">Die <hi rendition="#g">The&#x017F;is</hi> wird &#x017F;o oft ausge&#x017F;prochen, daß Belege überflü&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;ind,<lb/>
die <hi rendition="#g">Antithe&#x017F;is</hi> ging be&#x017F;onders aus der neuplatoni&#x017F;chen Schule vermittel&#x017F;t des<lb/>
Areopagiten Diony&#x017F;ius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter-<lb/>
liche Schrift&#x017F;teller über, vgl. Scotus Erigena <hi rendition="#aq">de divisione I c.</hi> 15 ff. <hi rendition="#aq">p. 463 <hi rendition="#k">B</hi><lb/>
c.</hi> 73 ff. <hi rendition="#aq">p. 518 <hi rendition="#k">A.</hi></hi> Abälard <hi rendition="#aq">theolog. christ. lib. III p. 1241 <hi rendition="#k">B</hi></hi> ff. An&#x017F;elm<lb/><hi rendition="#aq">Monolog. c. 17 p. 166 <hi rendition="#k">A.</hi></hi> &#x2014; Die <hi rendition="#g">Antinomie</hi> wird aus dem älteren<lb/>
Material &#x017F;ehr klar <hi rendition="#g">formulirt</hi> von Thomas, <hi rendition="#aq">summa theol. p. I quaest.<lb/>
13 art. 12.</hi></note>. &#x2014; Eine Reihe<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[363/0386] Zweite Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen. Leben ſtellt, kein Syſtem im Vorſtellen entworfener Formeln ent- ſprechen. Zwiſchen der Idee Gottes, wie ſie in der religiöſen Erfahrung gegeben iſt, und den Bedingungen des Vor- ſtellens beſteht eine innere Heterogeneität, und dieſe bringt die Antinomie in der Vorſtellung des höchſten Weſens hervor. Der Nachweis dieſes Thatbeſtandes liegt zunächſt in der Dar- legung der fruchtloſen Verſtandesarbeit, welche ſeit dem Mittelalter vollbracht worden iſt, und wird ſpäter durch pſychologiſche Be- trachtung ergänzt werden können. Das geſammte Mittelalter ringt auch mit dieſer zweiten Klaſſe von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann dieſelben durch die theologiſche Metaphyſik des Judenthums, des Chriſten- thums und des Islam hindurch verfolgen. — Und zwar findet eine Antinomie ſtatt zwiſchen der Idee Gottes und ihrer Dar- ſtellung in den Formeln des Vorſtellens durch Eigen- ſchaften. Die Theſis wird durch die Ausſagen über Eigen- ſchaften Gottes gebildet, dieſe Ausſagen ſind innerhalb des Vor- ſtellens nothwendig, und werden ſie aufgehoben, ſo wird die Vorſtellung Gottes ſelber mit ihnen aufgehoben. Die Antitheſis beſteht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht geſondert ſind, Eigenſchaften Gottes aber Prädikate deſſelben ſein würden, ſo müſſen Gott Eigenſchaften abgeſprochen werden; da Gott einfach iſt, die Verſchiedenheit der Eigenſchaften aber in ihm ein Mehrfaches ſetzen würde, ſo können auch aus dieſem Grunde von Gott Eigenſchaften nicht ausgeſagt werden; und da Gott Vollkommenheit iſt, jede Eigenſchaft aber ein Begrenztes ausdrücken würde, ſo ergiebt ſich noch einmal die Unangemeſſen- heit der Annahme von Eigenſchaften Gottes 1). — Eine Reihe 1) Die Theſis wird ſo oft ausgeſprochen, daß Belege überflüſſig ſind, die Antitheſis ging beſonders aus der neuplatoniſchen Schule vermittelſt des Areopagiten Dionyſius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter- liche Schriftſteller über, vgl. Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. p. 463 B c. 73 ff. p. 518 A. Abälard theolog. christ. lib. III p. 1241 B ff. Anſelm Monolog. c. 17 p. 166 A. — Die Antinomie wird aus dem älteren Material ſehr klar formulirt von Thomas, summa theol. p. I quaest. 13 art. 12.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/386
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/386>, abgerufen am 29.04.2024.