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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Abhängigkeit und Herrschaft des Menschen.
gegeben ist, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wissen-
schaftlichen Gedanken und die Technik so verbunden, daß die
Menschheit in ihrer Geschichte eben vermittelst der Unterordnung
die Herrschaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur1).

Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu
der Naturerkenntniß kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener
Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem trans-
scendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Be-
dingungen des Bewußtseins steht, und dem objektiv empirischen
Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den
Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese
Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Isolirt man
dies Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für
Alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen
derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der
inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Existenz einer Außenwelt;
alsdann sind in dieser Außenwelt geistige Thatsachen und geistige
Wesen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unseres Inneren
in dieselbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne
geblickt hat, ihr Bild in den verschiedensten Farben, an den
verschiedensten Stellen im Raume wiederholt: so vervielfältigt
unsre Auffassung das Bild unsres Innenlebens und versetzt es in
mannigfachen Abwandlungen an verschiedene Stellen des uns um-
gebenden Naturganzen; dieser Vorgang läßt sich aber logisch als
ein Analogieschluß von diesem originaliter uns allein un-
mittelbar gegebenen Innenleben, vermittelst der Vorstellungen von
den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Er-
scheinungen der Außenwelt entsprechend Verwandtes, zu Grunde
Liegendes darstellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an
sich selber sein mag, das Studium der Ursachen des Geistigen
kann sich daran genügen lassen, daß jedenfalls ihre Erscheinungen
als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zu-
sammensein und ihrer Folge als ein Zeichen solcher Gleichförmig-

1) Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis.
Aph. 3.

Abhängigkeit und Herrſchaft des Menſchen.
gegeben iſt, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wiſſen-
ſchaftlichen Gedanken und die Technik ſo verbunden, daß die
Menſchheit in ihrer Geſchichte eben vermittelſt der Unterordnung
die Herrſchaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur1).

Das Problem des Verhältniſſes der Geiſteswiſſenſchaften zu
der Naturerkenntniß kann jedoch erſt als gelöſt gelten, wenn jener
Gegenſatz, von dem wir ausgingen, zwiſchen dem trans-
ſcendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Be-
dingungen des Bewußtſeins ſteht, und dem objektiv empiriſchen
Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geiſtigen unter den
Bedingungen des Naturganzen ſteht, aufgelöſt ſein wird. Dieſe
Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Iſolirt man
dies Problem für die Geiſteswiſſenſchaften, ſo erſcheint eine für
Alle überzeugende Auflöſung nicht unmöglich. Die Bedingungen
derſelben würden ſein: Nachweis der objektiven Realität der
inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Exiſtenz einer Außenwelt;
alsdann ſind in dieſer Außenwelt geiſtige Thatſachen und geiſtige
Weſen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unſeres Inneren
in dieſelbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne
geblickt hat, ihr Bild in den verſchiedenſten Farben, an den
verſchiedenſten Stellen im Raume wiederholt: ſo vervielfältigt
unſre Auffaſſung das Bild unſres Innenlebens und verſetzt es in
mannigfachen Abwandlungen an verſchiedene Stellen des uns um-
gebenden Naturganzen; dieſer Vorgang läßt ſich aber logiſch als
ein Analogieſchluß von dieſem originaliter uns allein un-
mittelbar gegebenen Innenleben, vermittelſt der Vorſtellungen von
den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Er-
ſcheinungen der Außenwelt entſprechend Verwandtes, zu Grunde
Liegendes darſtellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an
ſich ſelber ſein mag, das Studium der Urſachen des Geiſtigen
kann ſich daran genügen laſſen, daß jedenfalls ihre Erſcheinungen
als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zu-
ſammenſein und ihrer Folge als ein Zeichen ſolcher Gleichförmig-

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Aph. 3.
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[25/0048] Abhängigkeit und Herrſchaft des Menſchen. gegeben iſt, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wiſſen- ſchaftlichen Gedanken und die Technik ſo verbunden, daß die Menſchheit in ihrer Geſchichte eben vermittelſt der Unterordnung die Herrſchaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur 1). Das Problem des Verhältniſſes der Geiſteswiſſenſchaften zu der Naturerkenntniß kann jedoch erſt als gelöſt gelten, wenn jener Gegenſatz, von dem wir ausgingen, zwiſchen dem trans- ſcendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Be- dingungen des Bewußtſeins ſteht, und dem objektiv empiriſchen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geiſtigen unter den Bedingungen des Naturganzen ſteht, aufgelöſt ſein wird. Dieſe Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Iſolirt man dies Problem für die Geiſteswiſſenſchaften, ſo erſcheint eine für Alle überzeugende Auflöſung nicht unmöglich. Die Bedingungen derſelben würden ſein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Exiſtenz einer Außenwelt; alsdann ſind in dieſer Außenwelt geiſtige Thatſachen und geiſtige Weſen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unſeres Inneren in dieſelbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verſchiedenſten Farben, an den verſchiedenſten Stellen im Raume wiederholt: ſo vervielfältigt unſre Auffaſſung das Bild unſres Innenlebens und verſetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verſchiedene Stellen des uns um- gebenden Naturganzen; dieſer Vorgang läßt ſich aber logiſch als ein Analogieſchluß von dieſem originaliter uns allein un- mittelbar gegebenen Innenleben, vermittelſt der Vorſtellungen von den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Er- ſcheinungen der Außenwelt entſprechend Verwandtes, zu Grunde Liegendes darſtellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an ſich ſelber ſein mag, das Studium der Urſachen des Geiſtigen kann ſich daran genügen laſſen, daß jedenfalls ihre Erſcheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zu- ſammenſein und ihrer Folge als ein Zeichen ſolcher Gleichförmig- 1) Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis. Aph. 3.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/48>, abgerufen am 29.04.2024.