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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.

Zwischen der Schöpfung Adam's und dem Weltuntergang
hatte diese Metaphysik die Fäden ihres Netzes von Allgemein-
vorstellungen ausgespannt. In der humanistischen Epoche be-
gann Herstellung eines ausreichenden geschichtlichen Materials,
Kritik der Quellen, Arbeit nach philologischer Methode. So wurde
das wirkliche Leben der Griechen vermittelst ihrer Dichter und Ge-
schichtschreiber wieder sichtbar. Ja wie wir emporsteigend immer
entfernter liegende Landschaften und Städte gewahr werden, so hat
sich der geschichtliche Ueberblick den aufwärts schreitenden neueren
Völkern immer mehr erweitert, und der mythische Anfang des
Menschengeschlechts verschwand nun vor einer Forschung, welche
den geschichtlichen Zügen in der ältesten Ueberlieferung nachging.
Hierzu trat die Erweiterung des räumlichen, geographischen Hori-
zontes der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Schon den Abenteurern,
welche in die neuen Welttheile jenseit des Oceans vorandrangen,
traten Völker von niederer Kulturstufe und von abweichendem
Typus entgegen. Unter der Gewalt dieser neuen Eindrücke hat
man gelegentlich einen schwarzen, einen rothen und einen weißen
Adam unterschieden. Das historische Gerüst der Metaphysik der
Geschichte brach zusammen. Ueberall hat die historische Kritik
das Gewebe der Sagen, Mythen und Rechtsfabeln zerstört, durch
welche die theokratische Gesellschaftslehre die Institutionen mit dem
Willen Gottes verknüpfte.

Blieb aber nicht eine metaphysische Konstruktion übrig,
welche die nunmehr von der Arbeit philologischer und histo-
rischer Kritik
reinlich festgestellten Thatsachen zu einem
sinnvollen Ganzen verknüpfen würde? Die mittelalter-
liche Vorstellung hatte die Einheit des Menschengeschlechtes durch
ein reales Band erklärt, wie ein solches als Seele die Theile
eines Organismus vereinige, und eine solche Vorstellung wurde
nicht durch die historische Kritik zerstört wie die von der Schenkung
Konstantin's. Sie hatte von ihrem theokratischen Gedanken aus
den Zusammenhang der Geschichte einer teleologischen Deutung
unterworfen, und auch diese wurde von den Ergebnissen der Kritik
nicht direkt vernichtet. Aber nachdem einmal die festen Prämissen

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.

Zwiſchen der Schöpfung Adam’s und dem Weltuntergang
hatte dieſe Metaphyſik die Fäden ihres Netzes von Allgemein-
vorſtellungen ausgeſpannt. In der humaniſtiſchen Epoche be-
gann Herſtellung eines ausreichenden geſchichtlichen Materials,
Kritik der Quellen, Arbeit nach philologiſcher Methode. So wurde
das wirkliche Leben der Griechen vermittelſt ihrer Dichter und Ge-
ſchichtſchreiber wieder ſichtbar. Ja wie wir emporſteigend immer
entfernter liegende Landſchaften und Städte gewahr werden, ſo hat
ſich der geſchichtliche Ueberblick den aufwärts ſchreitenden neueren
Völkern immer mehr erweitert, und der mythiſche Anfang des
Menſchengeſchlechts verſchwand nun vor einer Forſchung, welche
den geſchichtlichen Zügen in der älteſten Ueberlieferung nachging.
Hierzu trat die Erweiterung des räumlichen, geographiſchen Hori-
zontes der geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Schon den Abenteurern,
welche in die neuen Welttheile jenſeit des Oceans vorandrangen,
traten Völker von niederer Kulturſtufe und von abweichendem
Typus entgegen. Unter der Gewalt dieſer neuen Eindrücke hat
man gelegentlich einen ſchwarzen, einen rothen und einen weißen
Adam unterſchieden. Das hiſtoriſche Gerüſt der Metaphyſik der
Geſchichte brach zuſammen. Ueberall hat die hiſtoriſche Kritik
das Gewebe der Sagen, Mythen und Rechtsfabeln zerſtört, durch
welche die theokratiſche Geſellſchaftslehre die Inſtitutionen mit dem
Willen Gottes verknüpfte.

Blieb aber nicht eine metaphyſiſche Konſtruktion übrig,
welche die nunmehr von der Arbeit philologiſcher und hiſto-
riſcher Kritik
reinlich feſtgeſtellten Thatſachen zu einem
ſinnvollen Ganzen verknüpfen würde? Die mittelalter-
liche Vorſtellung hatte die Einheit des Menſchengeſchlechtes durch
ein reales Band erklärt, wie ein ſolches als Seele die Theile
eines Organismus vereinige, und eine ſolche Vorſtellung wurde
nicht durch die hiſtoriſche Kritik zerſtört wie die von der Schenkung
Konſtantin’s. Sie hatte von ihrem theokratiſchen Gedanken aus
den Zuſammenhang der Geſchichte einer teleologiſchen Deutung
unterworfen, und auch dieſe wurde von den Ergebniſſen der Kritik
nicht direkt vernichtet. Aber nachdem einmal die feſten Prämiſſen

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[476/0499] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Zwiſchen der Schöpfung Adam’s und dem Weltuntergang hatte dieſe Metaphyſik die Fäden ihres Netzes von Allgemein- vorſtellungen ausgeſpannt. In der humaniſtiſchen Epoche be- gann Herſtellung eines ausreichenden geſchichtlichen Materials, Kritik der Quellen, Arbeit nach philologiſcher Methode. So wurde das wirkliche Leben der Griechen vermittelſt ihrer Dichter und Ge- ſchichtſchreiber wieder ſichtbar. Ja wie wir emporſteigend immer entfernter liegende Landſchaften und Städte gewahr werden, ſo hat ſich der geſchichtliche Ueberblick den aufwärts ſchreitenden neueren Völkern immer mehr erweitert, und der mythiſche Anfang des Menſchengeſchlechts verſchwand nun vor einer Forſchung, welche den geſchichtlichen Zügen in der älteſten Ueberlieferung nachging. Hierzu trat die Erweiterung des räumlichen, geographiſchen Hori- zontes der geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Schon den Abenteurern, welche in die neuen Welttheile jenſeit des Oceans vorandrangen, traten Völker von niederer Kulturſtufe und von abweichendem Typus entgegen. Unter der Gewalt dieſer neuen Eindrücke hat man gelegentlich einen ſchwarzen, einen rothen und einen weißen Adam unterſchieden. Das hiſtoriſche Gerüſt der Metaphyſik der Geſchichte brach zuſammen. Ueberall hat die hiſtoriſche Kritik das Gewebe der Sagen, Mythen und Rechtsfabeln zerſtört, durch welche die theokratiſche Geſellſchaftslehre die Inſtitutionen mit dem Willen Gottes verknüpfte. Blieb aber nicht eine metaphyſiſche Konſtruktion übrig, welche die nunmehr von der Arbeit philologiſcher und hiſto- riſcher Kritik reinlich feſtgeſtellten Thatſachen zu einem ſinnvollen Ganzen verknüpfen würde? Die mittelalter- liche Vorſtellung hatte die Einheit des Menſchengeſchlechtes durch ein reales Band erklärt, wie ein ſolches als Seele die Theile eines Organismus vereinige, und eine ſolche Vorſtellung wurde nicht durch die hiſtoriſche Kritik zerſtört wie die von der Schenkung Konſtantin’s. Sie hatte von ihrem theokratiſchen Gedanken aus den Zuſammenhang der Geſchichte einer teleologiſchen Deutung unterworfen, und auch dieſe wurde von den Ergebniſſen der Kritik nicht direkt vernichtet. Aber nachdem einmal die feſten Prämiſſen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/499>, abgerufen am 28.04.2024.