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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
Metaphysik -- hier dürfen wir einen lang gesponnenen Faden zu
Ende führen --, welche das Leben des Menschen in eine höhere
Ordnung zurückführte, hatte ihre Macht nicht, wie Kant in seiner
abstrakten und ungeschichtlichen Denkweise annahm, kraft der
Schlüsse einer theoretischen Vernunft besessen. Nie würde aus diesen
die Idee der Seele oder der persönlichen Gottheit hervorgegangen
sein. Vielmehr waren diese Ideen in der inneren Erfahrung be-
gründet, mit ihr und der Besinnung über sie haben sie sich ent-
wickelt, und gerade der Denknothwendigkeit zum Trotz, welche nur
einen Gedankenzusammenhang kennt, sonach höchstens zu einem
Panlogismus gelangen kann, haben sie sich erhalten. -- Nun
entziehen sich aber die Erfahrungen des Willens in der Person
einer allgemeingültigen Darstellung, welche für jeden anderen In-
tellekt zwingend und verbindlich wäre. Dies ist eine Thatsache,
welche die Geschichte mit tausend Zungen predigt. Sonach können
sie auch nicht zu zwingenden metaphysischen Schlüssen verwandt
werden. Während die psychologische Wissenschaft vergleichend Ge-
meinsamkeiten des Seelenlebens an den psychischen Einheiten fest-
stellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menschlichen
Willens in der Burgfreiheit der Person. Hierin hat keine Me-
taphysik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Pro-
test der hierin klaren religiösen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von
den ersten christlichen Mystikern ab, welche sich der mittelalterlichen
Metaphysik gegenüberstellten und darum nicht schlechtere Christen
waren, bis auf Tauler und Luther. Nicht durch logische Folge-
richtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zusammenhang
an, in den unser Leben und Sterben verwebt ist; es wird sich
uns demnächst zeigen, wohin diese logische Folgerichtigkeit führt,
wenn sie auf einen solchen Zusammenhang ausgedehnt wird; viel-
mehr entspringt aus der Tiefe der Selbstbesinnung, die das Er-
leben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet
und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist, das
Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch die
Naturordnung, deren Gesetze sein Leben nicht entspricht, sondern
nur durch etwas, was dieselbe hinter sich zurückläßt. Diese Er-

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Metaphyſik — hier dürfen wir einen lang geſponnenen Faden zu
Ende führen —, welche das Leben des Menſchen in eine höhere
Ordnung zurückführte, hatte ihre Macht nicht, wie Kant in ſeiner
abſtrakten und ungeſchichtlichen Denkweiſe annahm, kraft der
Schlüſſe einer theoretiſchen Vernunft beſeſſen. Nie würde aus dieſen
die Idee der Seele oder der perſönlichen Gottheit hervorgegangen
ſein. Vielmehr waren dieſe Ideen in der inneren Erfahrung be-
gründet, mit ihr und der Beſinnung über ſie haben ſie ſich ent-
wickelt, und gerade der Denknothwendigkeit zum Trotz, welche nur
einen Gedankenzuſammenhang kennt, ſonach höchſtens zu einem
Panlogismus gelangen kann, haben ſie ſich erhalten. — Nun
entziehen ſich aber die Erfahrungen des Willens in der Perſon
einer allgemeingültigen Darſtellung, welche für jeden anderen In-
tellekt zwingend und verbindlich wäre. Dies iſt eine Thatſache,
welche die Geſchichte mit tauſend Zungen predigt. Sonach können
ſie auch nicht zu zwingenden metaphyſiſchen Schlüſſen verwandt
werden. Während die pſychologiſche Wiſſenſchaft vergleichend Ge-
meinſamkeiten des Seelenlebens an den pſychiſchen Einheiten feſt-
ſtellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menſchlichen
Willens in der Burgfreiheit der Perſon. Hierin hat keine Me-
taphyſik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Pro-
teſt der hierin klaren religiöſen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von
den erſten chriſtlichen Myſtikern ab, welche ſich der mittelalterlichen
Metaphyſik gegenüberſtellten und darum nicht ſchlechtere Chriſten
waren, bis auf Tauler und Luther. Nicht durch logiſche Folge-
richtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zuſammenhang
an, in den unſer Leben und Sterben verwebt iſt; es wird ſich
uns demnächſt zeigen, wohin dieſe logiſche Folgerichtigkeit führt,
wenn ſie auf einen ſolchen Zuſammenhang ausgedehnt wird; viel-
mehr entſpringt aus der Tiefe der Selbſtbeſinnung, die das Er-
leben der Hingabe, der freien Verneinung unſerer Egoität vorfindet
und ſo unſere Freiheit vom Naturzuſammenhang erweiſt, das
Bewußtſein, daß dieſer Wille nicht bedingt ſein kann durch die
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nur durch etwas, was dieſelbe hinter ſich zurückläßt. Dieſe Er-

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[490/0513] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Metaphyſik — hier dürfen wir einen lang geſponnenen Faden zu Ende führen —, welche das Leben des Menſchen in eine höhere Ordnung zurückführte, hatte ihre Macht nicht, wie Kant in ſeiner abſtrakten und ungeſchichtlichen Denkweiſe annahm, kraft der Schlüſſe einer theoretiſchen Vernunft beſeſſen. Nie würde aus dieſen die Idee der Seele oder der perſönlichen Gottheit hervorgegangen ſein. Vielmehr waren dieſe Ideen in der inneren Erfahrung be- gründet, mit ihr und der Beſinnung über ſie haben ſie ſich ent- wickelt, und gerade der Denknothwendigkeit zum Trotz, welche nur einen Gedankenzuſammenhang kennt, ſonach höchſtens zu einem Panlogismus gelangen kann, haben ſie ſich erhalten. — Nun entziehen ſich aber die Erfahrungen des Willens in der Perſon einer allgemeingültigen Darſtellung, welche für jeden anderen In- tellekt zwingend und verbindlich wäre. Dies iſt eine Thatſache, welche die Geſchichte mit tauſend Zungen predigt. Sonach können ſie auch nicht zu zwingenden metaphyſiſchen Schlüſſen verwandt werden. Während die pſychologiſche Wiſſenſchaft vergleichend Ge- meinſamkeiten des Seelenlebens an den pſychiſchen Einheiten feſt- ſtellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menſchlichen Willens in der Burgfreiheit der Perſon. Hierin hat keine Me- taphyſik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Pro- teſt der hierin klaren religiöſen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von den erſten chriſtlichen Myſtikern ab, welche ſich der mittelalterlichen Metaphyſik gegenüberſtellten und darum nicht ſchlechtere Chriſten waren, bis auf Tauler und Luther. Nicht durch logiſche Folge- richtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zuſammenhang an, in den unſer Leben und Sterben verwebt iſt; es wird ſich uns demnächſt zeigen, wohin dieſe logiſche Folgerichtigkeit führt, wenn ſie auf einen ſolchen Zuſammenhang ausgedehnt wird; viel- mehr entſpringt aus der Tiefe der Selbſtbeſinnung, die das Er- leben der Hingabe, der freien Verneinung unſerer Egoität vorfindet und ſo unſere Freiheit vom Naturzuſammenhang erweiſt, das Bewußtſein, daß dieſer Wille nicht bedingt ſein kann durch die Naturordnung, deren Geſetze ſein Leben nicht entſpricht, ſondern nur durch etwas, was dieſelbe hinter ſich zurückläßt. Dieſe Er-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/513>, abgerufen am 29.04.2024.