Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes einleitendes Buch.
richtigeren Ansichten über die Constitution der Materie genähert.
In diesem Punkte besteht ein viel günstigeres Verhältniß zwischen
der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz.
Dieser ist in ihr selber die Einheit unmittelbar gegeben, welche
das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft ist,
während dasselbe in den Naturwissenschaften erschlossen werden
muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen,
durch die alles Erkennen stattfindet, nach seinem unweigerlichen
Gesetz heftet, sind in den Naturwissenschaften Elemente, welche
durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen,
Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen sind; in
den Geisteswissenschaften sind es reale, in der inneren Er-
fahrung als Thatsachen gegebene Einheiten. Die Naturwissenschaft
baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr
fähigen, nur noch als Bestandtheile der Molecüle denkbaren
Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar
verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinander
wirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von
jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist. Ist doch
die Welt nirgend anders als eben in der Vorstellung eines solchen
Individuums. Diese Unermeßlichkeit eines psycho-physischen Ganzen,
in der schließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten ist,
läßt sich an der Analysis der Vorstellungswelt verdeutlichen, als
in welcher aus Empfindungen und Vorstellungen eine Einzel-
anschauung sich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele-
menten sie auch bestehe, als ein Element in die bewußte Ver-
knüpfung und Trennung der Vorstellungen eintritt. Und diese
Singularität eines jeden solchen einzelnen Individuums, das an
irgend einem Punkte des unermeßlichen geistigen Kosmos wirkt,
läßt sich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile, in seine
einzelnen Bestandtheile verfolgen, wodurch sie erst in ihrer ganzen
Bedeutung erkannt wird.

Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die
Anthropologie und Psychologie. Ihr Material bildet die ganze
Geschichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlüsse aus dem

Erſtes einleitendes Buch.
richtigeren Anſichten über die Conſtitution der Materie genähert.
In dieſem Punkte beſteht ein viel günſtigeres Verhältniß zwiſchen
der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz.
Dieſer iſt in ihr ſelber die Einheit unmittelbar gegeben, welche
das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Geſellſchaft iſt,
während daſſelbe in den Naturwiſſenſchaften erſchloſſen werden
muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen,
durch die alles Erkennen ſtattfindet, nach ſeinem unweigerlichen
Geſetz heftet, ſind in den Naturwiſſenſchaften Elemente, welche
durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerſchlagen,
Zerſplittern der Dinge nur hypothetiſch gewonnen ſind; in
den Geiſteswiſſenſchaften ſind es reale, in der inneren Er-
fahrung als Thatſachen gegebene Einheiten. Die Naturwiſſenſchaft
baut die Materie aus kleinen, keiner ſelbſtändigen Exiſtenz mehr
fähigen, nur noch als Beſtandtheile der Molecüle denkbaren
Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar
verſchlungenen Ganzen der Geſchichte und der Geſellſchaft aufeinander
wirken, ſind Individua, pſycho-phyſiſche Ganze, deren jedes von
jedem anderen unterſchieden, deren jedes eine Welt iſt. Iſt doch
die Welt nirgend anders als eben in der Vorſtellung eines ſolchen
Individuums. Dieſe Unermeßlichkeit eines pſycho-phyſiſchen Ganzen,
in der ſchließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten iſt,
läßt ſich an der Analyſis der Vorſtellungswelt verdeutlichen, als
in welcher aus Empfindungen und Vorſtellungen eine Einzel-
anſchauung ſich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele-
menten ſie auch beſtehe, als ein Element in die bewußte Ver-
knüpfung und Trennung der Vorſtellungen eintritt. Und dieſe
Singularität eines jeden ſolchen einzelnen Individuums, das an
irgend einem Punkte des unermeßlichen geiſtigen Kosmos wirkt,
läßt ſich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile, in ſeine
einzelnen Beſtandtheile verfolgen, wodurch ſie erſt in ihrer ganzen
Bedeutung erkannt wird.

Die Theorie dieſer pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten iſt die
Anthropologie und Pſychologie. Ihr Material bildet die ganze
Geſchichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlüſſe aus dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0059" n="36"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes einleitendes Buch.</fw><lb/>
richtigeren An&#x017F;ichten über die Con&#x017F;titution der Materie genähert.<lb/>
In die&#x017F;em Punkte be&#x017F;teht ein viel gün&#x017F;tigeres Verhältniß zwi&#x017F;chen<lb/>
der ge&#x017F;chichtlich-ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz.<lb/>
Die&#x017F;er i&#x017F;t in ihr &#x017F;elber die Einheit unmittelbar gegeben, welche<lb/>
das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft i&#x017F;t,<lb/>
während da&#x017F;&#x017F;elbe in den Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften er&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden<lb/>
muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen,<lb/>
durch die alles Erkennen &#x017F;tattfindet, nach &#x017F;einem unweigerlichen<lb/>
Ge&#x017F;etz heftet, &#x017F;ind in den Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften Elemente, welche<lb/>
durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zer&#x017F;chlagen,<lb/>
Zer&#x017F;plittern der Dinge nur hypotheti&#x017F;ch gewonnen &#x017F;ind; in<lb/>
den Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;ind es reale, in der inneren Er-<lb/>
fahrung als That&#x017F;achen gegebene Einheiten. Die Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
baut die Materie aus kleinen, keiner &#x017F;elb&#x017F;tändigen Exi&#x017F;tenz mehr<lb/>
fähigen, nur noch als Be&#x017F;tandtheile der Molecüle denkbaren<lb/>
Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar<lb/>
ver&#x017F;chlungenen Ganzen der Ge&#x017F;chichte und der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft aufeinander<lb/>
wirken, &#x017F;ind Individua, p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;che Ganze, deren jedes von<lb/>
jedem anderen unter&#x017F;chieden, deren jedes eine Welt i&#x017F;t. I&#x017F;t doch<lb/>
die Welt nirgend anders als eben in der Vor&#x017F;tellung eines &#x017F;olchen<lb/>
Individuums. Die&#x017F;e Unermeßlichkeit eines p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;chen Ganzen,<lb/>
in der &#x017F;chließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten i&#x017F;t,<lb/>
läßt &#x017F;ich an der Analy&#x017F;is der Vor&#x017F;tellungswelt verdeutlichen, als<lb/>
in welcher aus Empfindungen und Vor&#x017F;tellungen eine Einzel-<lb/>
an&#x017F;chauung &#x017F;ich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele-<lb/>
menten &#x017F;ie auch be&#x017F;tehe, als ein Element in die bewußte Ver-<lb/>
knüpfung und Trennung der Vor&#x017F;tellungen eintritt. Und die&#x017F;e<lb/>
Singularität eines jeden &#x017F;olchen einzelnen Individuums, das an<lb/>
irgend einem Punkte des unermeßlichen gei&#x017F;tigen Kosmos wirkt,<lb/>
läßt &#x017F;ich, gemäß dem Satz: <hi rendition="#aq">individuum est ineffabile,</hi> in &#x017F;eine<lb/>
einzelnen Be&#x017F;tandtheile verfolgen, wodurch &#x017F;ie er&#x017F;t in ihrer ganzen<lb/>
Bedeutung erkannt wird.</p><lb/>
          <p>Die Theorie die&#x017F;er p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;chen Lebenseinheiten i&#x017F;t die<lb/>
Anthropologie und P&#x017F;ychologie. Ihr Material bildet die ganze<lb/>
Ge&#x017F;chichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlü&#x017F;&#x017F;e aus dem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0059] Erſtes einleitendes Buch. richtigeren Anſichten über die Conſtitution der Materie genähert. In dieſem Punkte beſteht ein viel günſtigeres Verhältniß zwiſchen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz. Dieſer iſt in ihr ſelber die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Geſellſchaft iſt, während daſſelbe in den Naturwiſſenſchaften erſchloſſen werden muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen, durch die alles Erkennen ſtattfindet, nach ſeinem unweigerlichen Geſetz heftet, ſind in den Naturwiſſenſchaften Elemente, welche durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerſchlagen, Zerſplittern der Dinge nur hypothetiſch gewonnen ſind; in den Geiſteswiſſenſchaften ſind es reale, in der inneren Er- fahrung als Thatſachen gegebene Einheiten. Die Naturwiſſenſchaft baut die Materie aus kleinen, keiner ſelbſtändigen Exiſtenz mehr fähigen, nur noch als Beſtandtheile der Molecüle denkbaren Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verſchlungenen Ganzen der Geſchichte und der Geſellſchaft aufeinander wirken, ſind Individua, pſycho-phyſiſche Ganze, deren jedes von jedem anderen unterſchieden, deren jedes eine Welt iſt. Iſt doch die Welt nirgend anders als eben in der Vorſtellung eines ſolchen Individuums. Dieſe Unermeßlichkeit eines pſycho-phyſiſchen Ganzen, in der ſchließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten iſt, läßt ſich an der Analyſis der Vorſtellungswelt verdeutlichen, als in welcher aus Empfindungen und Vorſtellungen eine Einzel- anſchauung ſich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele- menten ſie auch beſtehe, als ein Element in die bewußte Ver- knüpfung und Trennung der Vorſtellungen eintritt. Und dieſe Singularität eines jeden ſolchen einzelnen Individuums, das an irgend einem Punkte des unermeßlichen geiſtigen Kosmos wirkt, läßt ſich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile, in ſeine einzelnen Beſtandtheile verfolgen, wodurch ſie erſt in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wird. Die Theorie dieſer pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten iſt die Anthropologie und Pſychologie. Ihr Material bildet die ganze Geſchichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlüſſe aus dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/59
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/59>, abgerufen am 27.04.2024.