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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
dung von Wahrheiten bilden, welche die Wissenschaft ausmachen;
zugleich ist derselbe das wichtigste Glied des ökonomischen Vor-
gangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare sich voll-
zieht; derselbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine
rechtliche Seite, und er kann ein Bestandtheil der in den Ver-
waltungszusammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Ge-
lehrten sein. Das Niederschreiben eines jeden Buchstabens dieses
Werkes ist so ein Bestandtheil all dieser Systeme.

Die abstrakte Wissenschaft stellt nunmehr diese so in der
geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit verwebten Systeme neben-
einander. Wird doch der Einzelne in sie hineingeboren und findet
sie daher als eine Objektivität sich gegenüber, die vor ihm war,
nach ihm verbleibt und mit ihren Veranstaltungen auf ihn wirkt.
So stellen sie sich der wissenschaftlichen Einbildungskraft als auf
sich selber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirth-
schaftsordnung oder die Religion, selbst die Wissenschaft steht als
eine solche bildlich vor uns. Der umfassende Schluß von der
erscheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Be-
wegung der Sonne, den theilweise so verschlungenen Bewegungen
der Gestirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Massen, Be-
wegungsformen, Geschwindigkeiten der Körper im Weltraume
existirt in seinen Gliedern für den heutigen Menschen als ein ob-
jektiver Thatbestand, Theil des umfassenderen der Naturwissenschaft,
ganz losgelöst von den Personen, in denen er sich vollzieht: ein
Thatbestand, zu welchem sich der Einzelne als zu einer geistigen
Wirklichkeit verhält.

Indem so diese Systeme nebeneinander der Analysis unterworfen
werden, können solche Untersuchungen nur in steter Beziehung auf die
andere Classe von Untersuchungen angestellt werden, welche die Ge-
meinsamkeiten und Verbände innerhalb der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Welt zu ihrem Gegenstande haben. Im Hinblick auf diese
Beziehung tritt ein für die Constitution dieser Wissenschaften folgen-
reicher Unterschied zwischen den einzelnen Systemen hervor.

Ein jedes derselben entwickelt sich innerhalb des Ganzen der
geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes ist das Er-

Erſtes einleitendes Buch.
dung von Wahrheiten bilden, welche die Wiſſenſchaft ausmachen;
zugleich iſt derſelbe das wichtigſte Glied des ökonomiſchen Vor-
gangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare ſich voll-
zieht; derſelbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine
rechtliche Seite, und er kann ein Beſtandtheil der in den Ver-
waltungszuſammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Ge-
lehrten ſein. Das Niederſchreiben eines jeden Buchſtabens dieſes
Werkes iſt ſo ein Beſtandtheil all dieſer Syſteme.

Die abſtrakte Wiſſenſchaft ſtellt nunmehr dieſe ſo in der
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit verwebten Syſteme neben-
einander. Wird doch der Einzelne in ſie hineingeboren und findet
ſie daher als eine Objektivität ſich gegenüber, die vor ihm war,
nach ihm verbleibt und mit ihren Veranſtaltungen auf ihn wirkt.
So ſtellen ſie ſich der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft als auf
ſich ſelber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirth-
ſchaftsordnung oder die Religion, ſelbſt die Wiſſenſchaft ſteht als
eine ſolche bildlich vor uns. Der umfaſſende Schluß von der
erſcheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Be-
wegung der Sonne, den theilweiſe ſo verſchlungenen Bewegungen
der Geſtirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Maſſen, Be-
wegungsformen, Geſchwindigkeiten der Körper im Weltraume
exiſtirt in ſeinen Gliedern für den heutigen Menſchen als ein ob-
jektiver Thatbeſtand, Theil des umfaſſenderen der Naturwiſſenſchaft,
ganz losgelöſt von den Perſonen, in denen er ſich vollzieht: ein
Thatbeſtand, zu welchem ſich der Einzelne als zu einer geiſtigen
Wirklichkeit verhält.

Indem ſo dieſe Syſteme nebeneinander der Analyſis unterworfen
werden, können ſolche Unterſuchungen nur in ſteter Beziehung auf die
andere Claſſe von Unterſuchungen angeſtellt werden, welche die Ge-
meinſamkeiten und Verbände innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Welt zu ihrem Gegenſtande haben. Im Hinblick auf dieſe
Beziehung tritt ein für die Conſtitution dieſer Wiſſenſchaften folgen-
reicher Unterſchied zwiſchen den einzelnen Syſtemen hervor.

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geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes iſt das Er-

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[64/0087] Erſtes einleitendes Buch. dung von Wahrheiten bilden, welche die Wiſſenſchaft ausmachen; zugleich iſt derſelbe das wichtigſte Glied des ökonomiſchen Vor- gangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare ſich voll- zieht; derſelbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine rechtliche Seite, und er kann ein Beſtandtheil der in den Ver- waltungszuſammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Ge- lehrten ſein. Das Niederſchreiben eines jeden Buchſtabens dieſes Werkes iſt ſo ein Beſtandtheil all dieſer Syſteme. Die abſtrakte Wiſſenſchaft ſtellt nunmehr dieſe ſo in der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit verwebten Syſteme neben- einander. Wird doch der Einzelne in ſie hineingeboren und findet ſie daher als eine Objektivität ſich gegenüber, die vor ihm war, nach ihm verbleibt und mit ihren Veranſtaltungen auf ihn wirkt. So ſtellen ſie ſich der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft als auf ſich ſelber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirth- ſchaftsordnung oder die Religion, ſelbſt die Wiſſenſchaft ſteht als eine ſolche bildlich vor uns. Der umfaſſende Schluß von der erſcheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Be- wegung der Sonne, den theilweiſe ſo verſchlungenen Bewegungen der Geſtirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Maſſen, Be- wegungsformen, Geſchwindigkeiten der Körper im Weltraume exiſtirt in ſeinen Gliedern für den heutigen Menſchen als ein ob- jektiver Thatbeſtand, Theil des umfaſſenderen der Naturwiſſenſchaft, ganz losgelöſt von den Perſonen, in denen er ſich vollzieht: ein Thatbeſtand, zu welchem ſich der Einzelne als zu einer geiſtigen Wirklichkeit verhält. Indem ſo dieſe Syſteme nebeneinander der Analyſis unterworfen werden, können ſolche Unterſuchungen nur in ſteter Beziehung auf die andere Claſſe von Unterſuchungen angeſtellt werden, welche die Ge- meinſamkeiten und Verbände innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaft- lichen Welt zu ihrem Gegenſtande haben. Im Hinblick auf dieſe Beziehung tritt ein für die Conſtitution dieſer Wiſſenſchaften folgen- reicher Unterſchied zwiſchen den einzelnen Syſtemen hervor. Ein jedes derſelben entwickelt ſich innerhalb des Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes iſt das Er-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/87>, abgerufen am 07.05.2024.