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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Gegenstand einer allgemeinen Theorie, der Wirthschaftslehre dar,
unter dem anderen als Inbegriff von Einzelgestalten, von Volks-
wirthschaftsganzen, deren jedes wie durch alles, was alle Volks-
genossen zusammen beeinflußt, so auch durch den Staatswillen und
die Rechtsordnung bedingt ist. Das Studium der allgemeinen Eigen-
schaften des Systems, welche aus dem Bestandtheil der Natur des
Menschen, in welchem es gegründet ist, und den allgemeinen Be-
dingungen der Natur und der Gesellschaft, unter denen es wirkt,
herfließen, wird hier ergänzt durch das Studium des Einflusses,
welchen die nationale Organisation und die regelnde Einwirkung
des Staatswillens ausüben.

In der Sittlichkeit löst sich schon auf dem Gebiet des prak-
tischen Handelns die innere Kultur von der äußeren Organisation
der Gesellschaft los. Wenn wir die Systeme, in welche das prak-
tische Handeln der Gesellschaft sich zerlegt hat, verlassen, finden wir
diese Absonderung überall. Sprache und Religion haben unter
dem Einfluß der Gliederung der Menschheit, der Strömungen der
Geschichte, der Bedingungen der äußeren Natur, sich zu mehreren
abgegrenzten Ganzen entwickelt, innerhalb deren der Bestandtheil
und Zweck des geistigen Wirkens, der in seiner Gleichartigkeit durch
das eine und das andere System hindurchgeht, sich zu einer Viel-
heit besonderer Gestalten der Anordnung entfaltet. Kunst und
Wissenschaft sind Weltthatsachen, die von keiner Schranke der
Staaten oder der Völker oder der Religionen aufgehalten werden,
so mächtig auch diese Abgrenzungen des gesellschaftlichen Kosmos
auf sie eingewirkt haben und obwol sie in hohem Grade noch
heute auf sie einwirken. Das System der Kunst wie das der
Wissenschaft können in den Grundzügen entwickelt werden, ohne
daß die Einführung der äußeren Organisation der Gesellschaft in
die Untersuchung für die Entwicklung dieser Grundzüge erforderlich
wäre. Weder die Grundlagen der Aesthetik noch die der Wissen-
schaftslehre schließen den Einfluß des nationalen Charakters auf
Kunst und Wissenschaft oder die Wirkung von Staat und Ge-
nossenschaften auf dieselben ein.

Von der Erörterung der Beziehung, in welcher die Systeme

Erſtes einleitendes Buch.
Gegenſtand einer allgemeinen Theorie, der Wirthſchaftslehre dar,
unter dem anderen als Inbegriff von Einzelgeſtalten, von Volks-
wirthſchaftsganzen, deren jedes wie durch alles, was alle Volks-
genoſſen zuſammen beeinflußt, ſo auch durch den Staatswillen und
die Rechtsordnung bedingt iſt. Das Studium der allgemeinen Eigen-
ſchaften des Syſtems, welche aus dem Beſtandtheil der Natur des
Menſchen, in welchem es gegründet iſt, und den allgemeinen Be-
dingungen der Natur und der Geſellſchaft, unter denen es wirkt,
herfließen, wird hier ergänzt durch das Studium des Einfluſſes,
welchen die nationale Organiſation und die regelnde Einwirkung
des Staatswillens ausüben.

In der Sittlichkeit löſt ſich ſchon auf dem Gebiet des prak-
tiſchen Handelns die innere Kultur von der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft los. Wenn wir die Syſteme, in welche das prak-
tiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, verlaſſen, finden wir
dieſe Abſonderung überall. Sprache und Religion haben unter
dem Einfluß der Gliederung der Menſchheit, der Strömungen der
Geſchichte, der Bedingungen der äußeren Natur, ſich zu mehreren
abgegrenzten Ganzen entwickelt, innerhalb deren der Beſtandtheil
und Zweck des geiſtigen Wirkens, der in ſeiner Gleichartigkeit durch
das eine und das andere Syſtem hindurchgeht, ſich zu einer Viel-
heit beſonderer Geſtalten der Anordnung entfaltet. Kunſt und
Wiſſenſchaft ſind Weltthatſachen, die von keiner Schranke der
Staaten oder der Völker oder der Religionen aufgehalten werden,
ſo mächtig auch dieſe Abgrenzungen des geſellſchaftlichen Kosmos
auf ſie eingewirkt haben und obwol ſie in hohem Grade noch
heute auf ſie einwirken. Das Syſtem der Kunſt wie das der
Wiſſenſchaft können in den Grundzügen entwickelt werden, ohne
daß die Einführung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in
die Unterſuchung für die Entwicklung dieſer Grundzüge erforderlich
wäre. Weder die Grundlagen der Aeſthetik noch die der Wiſſen-
ſchaftslehre ſchließen den Einfluß des nationalen Charakters auf
Kunſt und Wiſſenſchaft oder die Wirkung von Staat und Ge-
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[72/0095] Erſtes einleitendes Buch. Gegenſtand einer allgemeinen Theorie, der Wirthſchaftslehre dar, unter dem anderen als Inbegriff von Einzelgeſtalten, von Volks- wirthſchaftsganzen, deren jedes wie durch alles, was alle Volks- genoſſen zuſammen beeinflußt, ſo auch durch den Staatswillen und die Rechtsordnung bedingt iſt. Das Studium der allgemeinen Eigen- ſchaften des Syſtems, welche aus dem Beſtandtheil der Natur des Menſchen, in welchem es gegründet iſt, und den allgemeinen Be- dingungen der Natur und der Geſellſchaft, unter denen es wirkt, herfließen, wird hier ergänzt durch das Studium des Einfluſſes, welchen die nationale Organiſation und die regelnde Einwirkung des Staatswillens ausüben. In der Sittlichkeit löſt ſich ſchon auf dem Gebiet des prak- tiſchen Handelns die innere Kultur von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft los. Wenn wir die Syſteme, in welche das prak- tiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, verlaſſen, finden wir dieſe Abſonderung überall. Sprache und Religion haben unter dem Einfluß der Gliederung der Menſchheit, der Strömungen der Geſchichte, der Bedingungen der äußeren Natur, ſich zu mehreren abgegrenzten Ganzen entwickelt, innerhalb deren der Beſtandtheil und Zweck des geiſtigen Wirkens, der in ſeiner Gleichartigkeit durch das eine und das andere Syſtem hindurchgeht, ſich zu einer Viel- heit beſonderer Geſtalten der Anordnung entfaltet. Kunſt und Wiſſenſchaft ſind Weltthatſachen, die von keiner Schranke der Staaten oder der Völker oder der Religionen aufgehalten werden, ſo mächtig auch dieſe Abgrenzungen des geſellſchaftlichen Kosmos auf ſie eingewirkt haben und obwol ſie in hohem Grade noch heute auf ſie einwirken. Das Syſtem der Kunſt wie das der Wiſſenſchaft können in den Grundzügen entwickelt werden, ohne daß die Einführung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in die Unterſuchung für die Entwicklung dieſer Grundzüge erforderlich wäre. Weder die Grundlagen der Aeſthetik noch die der Wiſſen- ſchaftslehre ſchließen den Einfluß des nationalen Charakters auf Kunſt und Wiſſenſchaft oder die Wirkung von Staat und Ge- noſſenſchaften auf dieſelben ein. Von der Erörterung der Beziehung, in welcher die Syſteme

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/95>, abgerufen am 01.05.2024.