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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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der incalculabelsten Productionen"; "ja, um sie zu beurtheilen, pdi_438.003
fehle ihm beinahe selber der Massstab." Und den Faust nennt pdi_438.004
er ausdrücklich etwas ganz "Incommensurables" und findet alle pdi_438.005
Versuche vergeblich, ihn dem Verstand näher zu bringen. In pdi_438.006
welchem Sinne das Erlebte in der Dichtung dennoch zu allgemeingültiger pdi_438.007
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wird, spricht er in pdi_438.008
Bezug auf Wilhelm Meister aus. "Die Anfänge entsprangen aus pdi_438.009
einem dunklen Gefühl der grossen Wahrheit, dass der Mensch oft pdi_438.010
etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt pdi_438.011
ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte pdi_438.012
zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich pdi_438.013
im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, pdi_438.014
ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: Du kommst mir vor pdi_438.015
wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen pdi_438.016
zu suchen, und ein Königreich fand."

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Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten pdi_438.018
werden, wie sie noch gegenwärtig unter dem Einfluss pdi_438.019
der Aesthetik Hegels herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der pdi_438.020
Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder pdi_438.021
gemacht worden. Doch kann nur die ganz incommensurable pdi_438.022
Thatsächlichkeit, dem Dichter nachstammelnd, beschrieben werden, pdi_438.023
welche er in seinem Drama zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben pdi_438.024
hat. Da er nämlich ein feines und starkes sittliches Gefühl, pdi_438.025
im Zusammenhang mit der protestantischen Religiosität pdi_438.026
seiner Tage, in sich ausgebildet hatte, gerieth dasselbe vielfach pdi_438.027
in widrige Berührung mit den zweifelhaften moralischen Verhältnissen, pdi_438.028
in denen er sich emporarbeitete. Hieraus entsprang pdi_438.029
ihm neben der Freude einer grossen Natur an der heroischen pdi_438.030
Leidenschaft, an dem Glück und Glanz dieser Welt ein sehr pdi_438.031
tiefes Gefühl ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Schadhaftigkeit. pdi_438.032
Das englische Drama vor ihm hat durch die stärksten pdi_438.033
Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer pdi_438.034
und komische Situationen, durch sinnliche Lebensmacht und pdi_438.035
tragischen Tod gewirkt. Shakespeares Energie der sittlichen Gefühle pdi_438.036
brachte in dasselbe den inneren Zusammenhang von Charakter,

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der Aesthetik Hegels herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der pdi_438.020
Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder pdi_438.021
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Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer pdi_438.034
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/140>, abgerufen am 26.04.2024.