Der Dichter bildet in einer Folge von Worten ab. Man pdi_340.002 könnte denken, die Natur dieses Darstellungsmittels hätte im pdi_340.003 Laufe der Zeit bewirkt, dass die Gegenstände, welche besser pdi_340.004 durch eine andere Kunst dargestellt werden konnten, derselben pdi_340.005 überlassen wurden, die aber, welche dem Darstellungsmittel der pdi_340.006 Rede am besten entsprachen, der Dichtung zufielen und deren pdi_340.007 Objecte bildeten. So könnte man erklären, dass die Schilderung pdi_340.008 der Natur als solche bis hinauf zum vollendet schönen Körper pdi_340.009 nicht ein ausreichender Gegenstand der Dichtung ist, obwohl pdi_340.010 sie ja im Gemälde das Gemüth aufs Tiefste ergreifen oder im pdi_340.011 Marmor das Auge entzücken kann. Gewiss hat der Wettstreit pdi_340.012 der Künste in solcher Richtung gewirkt. Aber nicht das Darstellungsmittel pdi_340.013 der Rede hat die Poesie von den anderen Künsten pdi_340.014 getrennt und ihre Funktion unter diesen inmitten der Gesellschaft pdi_340.015 bestimmt, sondern ein ihr eigener kernhafter Inhalt.
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Das vergleichende Verfahren kann gleichsam zu Urzellen, pdi_340.017 zu primären und einfachen Lebensformen der Poesie aufsteigen; pdi_340.018 indem ich hier diese Untersuchung zurückschiebe, versuche ich pdi_340.019 doch diesen kernhaften Inhalt zu beschreiben, wie er von den pdi_340.020 einfachen Formen ab aller Dichtung gemeinsam ist. Das Schaffen pdi_340.021 des Dichters beruht überall auf der Energie des Erlebens. pdi_340.022 In seiner Organisation, die eine starke Resonanz für die Töne des pdi_340.023 Lebens hat, wird die todte Notiz eines Zeitungsblatts, unter der pdi_340.024 Rubrik "aus der Verbrecherwelt", der dürre Bericht des Chronisten pdi_340.025 oder die groteske Sage zum Erlebniss. Wie unser Leib athmet, pdi_340.026 so verlangt unsre Seele nach Erfüllung und Erweiterung ihrer pdi_340.027 Existenz in den Schwingungen des Gemüthslebens. Das Lebensgefühl pdi_340.028 will austönen in Klang und Wort und Bild; die Anschauung pdi_340.029 befriedigt uns nur ganz, sofern sie mit solchem pdi_340.030 Gehalt des Lebens und den Schwingungen des Gefühls erfüllt pdi_340.031 ist; dies Ineinander, unser ursprüngliches, volles, ganzes Leben, pdi_340.032 Anschauung vom Gefühl verinnerlicht und gesättigt, Lebensgefühl pdi_340.033 ausstrahlend in der Helle des Bildes: das ist das inhaltliche, pdi_340.034 wesenhafte Merkmal aller Poesie. Solches Erlebniss pdi_340.035 wird dann erst ganz zum Besitz gebracht, indem es zu anderen pdi_340.036 Erlebnissen in innere Beziehung gesetzt und so seine Bedeutung
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Der Dichter bildet in einer Folge von Worten ab. Man pdi_340.002 könnte denken, die Natur dieses Darstellungsmittels hätte im pdi_340.003 Laufe der Zeit bewirkt, dass die Gegenstände, welche besser pdi_340.004 durch eine andere Kunst dargestellt werden konnten, derselben pdi_340.005 überlassen wurden, die aber, welche dem Darstellungsmittel der pdi_340.006 Rede am besten entsprachen, der Dichtung zufielen und deren pdi_340.007 Objecte bildeten. So könnte man erklären, dass die Schilderung pdi_340.008 der Natur als solche bis hinauf zum vollendet schönen Körper pdi_340.009 nicht ein ausreichender Gegenstand der Dichtung ist, obwohl pdi_340.010 sie ja im Gemälde das Gemüth aufs Tiefste ergreifen oder im pdi_340.011 Marmor das Auge entzücken kann. Gewiss hat der Wettstreit pdi_340.012 der Künste in solcher Richtung gewirkt. Aber nicht das Darstellungsmittel pdi_340.013 der Rede hat die Poesie von den anderen Künsten pdi_340.014 getrennt und ihre Funktion unter diesen inmitten der Gesellschaft pdi_340.015 bestimmt, sondern ein ihr eigener kernhafter Inhalt.
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Das vergleichende Verfahren kann gleichsam zu Urzellen, pdi_340.017 zu primären und einfachen Lebensformen der Poesie aufsteigen; pdi_340.018 indem ich hier diese Untersuchung zurückschiebe, versuche ich pdi_340.019 doch diesen kernhaften Inhalt zu beschreiben, wie er von den pdi_340.020 einfachen Formen ab aller Dichtung gemeinsam ist. Das Schaffen pdi_340.021 des Dichters beruht überall auf der Energie des Erlebens. pdi_340.022 In seiner Organisation, die eine starke Resonanz für die Töne des pdi_340.023 Lebens hat, wird die todte Notiz eines Zeitungsblatts, unter der pdi_340.024 Rubrik „aus der Verbrecherwelt“, der dürre Bericht des Chronisten pdi_340.025 oder die groteske Sage zum Erlebniss. Wie unser Leib athmet, pdi_340.026 so verlangt unsre Seele nach Erfüllung und Erweiterung ihrer pdi_340.027 Existenz in den Schwingungen des Gemüthslebens. Das Lebensgefühl pdi_340.028 will austönen in Klang und Wort und Bild; die Anschauung pdi_340.029 befriedigt uns nur ganz, sofern sie mit solchem pdi_340.030 Gehalt des Lebens und den Schwingungen des Gefühls erfüllt pdi_340.031 ist; dies Ineinander, unser ursprüngliches, volles, ganzes Leben, pdi_340.032 Anschauung vom Gefühl verinnerlicht und gesättigt, Lebensgefühl pdi_340.033 ausstrahlend in der Helle des Bildes: das ist das inhaltliche, pdi_340.034 wesenhafte Merkmal aller Poesie. Solches Erlebniss pdi_340.035 wird dann erst ganz zum Besitz gebracht, indem es zu anderen pdi_340.036 Erlebnissen in innere Beziehung gesetzt und so seine Bedeutung
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Laufe der Zeit bewirkt, dass die Gegenstände, welche besser pdi_340.004
durch eine andere Kunst dargestellt werden konnten, derselben pdi_340.005
überlassen wurden, die aber, welche dem Darstellungsmittel der pdi_340.006
Rede am besten entsprachen, der Dichtung zufielen und deren pdi_340.007
Objecte bildeten. So könnte man erklären, dass die Schilderung pdi_340.008
der Natur als solche bis hinauf zum vollendet schönen Körper pdi_340.009
nicht ein ausreichender Gegenstand der Dichtung ist, obwohl pdi_340.010
sie ja im Gemälde das Gemüth aufs Tiefste ergreifen oder im pdi_340.011
Marmor das Auge entzücken kann. Gewiss hat der Wettstreit pdi_340.012
der Künste in solcher Richtung gewirkt. Aber nicht das Darstellungsmittel pdi_340.013
der Rede hat die Poesie von den anderen Künsten pdi_340.014
getrennt und ihre Funktion unter diesen inmitten der Gesellschaft pdi_340.015
bestimmt, sondern ein ihr eigener kernhafter Inhalt.
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Das vergleichende Verfahren kann gleichsam zu Urzellen, pdi_340.017
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indem ich hier diese Untersuchung zurückschiebe, versuche ich pdi_340.019
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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/42>, abgerufen am 23.05.2022.
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