Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite
Wohl war sie gut, wohl war sie klar und milde,
Wohl war sie Allen werth, die sie gekannt!
Kein Schatten haftet an dem reinen Bilde,
Man tritt sich näher, wird sie nur genannt,
Und über Thal und Ströme schlingt auf's Neue
Um alles, was sie einst umfaßt mit Treue,
Aus ihrem Grabe sich ein festes Band.
Euch, ruhend noch in dieser frühen Stunde,
Verehrter Freund und meine theuren Zween,
Emilia und Emma, Eurem Bunde
Gewiß wird lächelnd sie zur Seite steh'n.
Ich weiß es, denkend an geliebte Todten,
Habt ihr der Fremden eure Hand geboten,
Als hättet ihr seit Jahren sie geseh'n.
Schlaft sanft, schlaft wohl! -- Ich aber steh' und lausche
Nach jedem Flöckchen, das vergoldet weht;
Ist's nicht, als ob der Morgenwind schon rausche?
Wie's drüben wogt und rollt, und in sich dreht;
Nun breitet sich's, nun steht es über'm Schaume;
Was steigt dort auf? -- ein Bild aus kühnem Traume,
O Säntis, Säntis, deine Majestät!
Wohl war ſie gut, wohl war ſie klar und milde,
Wohl war ſie Allen werth, die ſie gekannt!
Kein Schatten haftet an dem reinen Bilde,
Man tritt ſich näher, wird ſie nur genannt,
Und über Thal und Ströme ſchlingt auf’s Neue
Um alles, was ſie einſt umfaßt mit Treue,
Aus ihrem Grabe ſich ein feſtes Band.
Euch, ruhend noch in dieſer frühen Stunde,
Verehrter Freund und meine theuren Zween,
Emilia und Emma, Eurem Bunde
Gewiß wird lächelnd ſie zur Seite ſteh’n.
Ich weiß es, denkend an geliebte Todten,
Habt ihr der Fremden eure Hand geboten,
Als hättet ihr ſeit Jahren ſie geſeh’n.
Schlaft ſanft, ſchlaft wohl! — Ich aber ſteh’ und lauſche
Nach jedem Flöckchen, das vergoldet weht;
Iſt’s nicht, als ob der Morgenwind ſchon rauſche?
Wie’s drüben wogt und rollt, und in ſich dreht;
Nun breitet ſich’s, nun ſteht es über’m Schaume;
Was ſteigt dort auf? — ein Bild aus kühnem Traume,
O Säntis, Säntis, deine Majeſtät!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0127" n="111"/>
            <lg n="6">
              <l>Wohl war &#x017F;ie gut, wohl war &#x017F;ie klar und milde,</l><lb/>
              <l>Wohl war &#x017F;ie Allen werth, die &#x017F;ie gekannt!</l><lb/>
              <l>Kein Schatten haftet an dem reinen Bilde,</l><lb/>
              <l>Man tritt &#x017F;ich näher, wird &#x017F;ie nur genannt,</l><lb/>
              <l>Und über Thal und Ströme &#x017F;chlingt auf&#x2019;s Neue</l><lb/>
              <l>Um alles, was &#x017F;ie ein&#x017F;t umfaßt mit Treue,</l><lb/>
              <l>Aus ihrem Grabe &#x017F;ich ein fe&#x017F;tes Band.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="7">
              <l>Euch, ruhend noch in die&#x017F;er frühen Stunde,</l><lb/>
              <l>Verehrter Freund und meine theuren Zween,</l><lb/>
              <l>Emilia und Emma, Eurem Bunde</l><lb/>
              <l>Gewiß wird lächelnd &#x017F;ie zur Seite &#x017F;teh&#x2019;n.</l><lb/>
              <l>Ich weiß es, denkend an geliebte Todten,</l><lb/>
              <l>Habt ihr der Fremden eure Hand geboten,</l><lb/>
              <l>Als hättet ihr &#x017F;eit Jahren &#x017F;ie ge&#x017F;eh&#x2019;n.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="8">
              <l>Schlaft &#x017F;anft, &#x017F;chlaft wohl! &#x2014; Ich aber &#x017F;teh&#x2019; und lau&#x017F;che</l><lb/>
              <l>Nach jedem Flöckchen, das vergoldet weht;</l><lb/>
              <l>I&#x017F;t&#x2019;s nicht, als ob der Morgenwind &#x017F;chon rau&#x017F;che?</l><lb/>
              <l>Wie&#x2019;s drüben wogt und rollt, und in &#x017F;ich dreht;</l><lb/>
              <l>Nun breitet &#x017F;ich&#x2019;s, nun &#x017F;teht es über&#x2019;m Schaume;</l><lb/>
              <l>Was &#x017F;teigt dort auf? &#x2014; ein Bild aus kühnem Traume,</l><lb/>
              <l>O Säntis, Säntis, deine Maje&#x017F;tät!</l>
            </lg><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0127] Wohl war ſie gut, wohl war ſie klar und milde, Wohl war ſie Allen werth, die ſie gekannt! Kein Schatten haftet an dem reinen Bilde, Man tritt ſich näher, wird ſie nur genannt, Und über Thal und Ströme ſchlingt auf’s Neue Um alles, was ſie einſt umfaßt mit Treue, Aus ihrem Grabe ſich ein feſtes Band. Euch, ruhend noch in dieſer frühen Stunde, Verehrter Freund und meine theuren Zween, Emilia und Emma, Eurem Bunde Gewiß wird lächelnd ſie zur Seite ſteh’n. Ich weiß es, denkend an geliebte Todten, Habt ihr der Fremden eure Hand geboten, Als hättet ihr ſeit Jahren ſie geſeh’n. Schlaft ſanft, ſchlaft wohl! — Ich aber ſteh’ und lauſche Nach jedem Flöckchen, das vergoldet weht; Iſt’s nicht, als ob der Morgenwind ſchon rauſche? Wie’s drüben wogt und rollt, und in ſich dreht; Nun breitet ſich’s, nun ſteht es über’m Schaume; Was ſteigt dort auf? — ein Bild aus kühnem Traume, O Säntis, Säntis, deine Majeſtät!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/127
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/127>, abgerufen am 02.05.2024.