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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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O fessle, fessle seinen Quell im Fliehen,
Halt jeden Tropfen höher als Demanten;
Noch schläft die Stunde, doch sie wacht dereinst
Da deinem Willen sich die Kraft entwunden,
Wo du verloren schwere Thränen weinst
In die Charybdis deiner todten Stunden!

Vor Allem aber halt das Kind der Schmerzen,
Dein angefochtnes Selbst, von Gott gegeben.
O sauge nicht das Blut aus deinem Herzen,
Um einen Seelenbastard zu beleben;
Daß, wenn dir einstens vor dem Golem graut,
Es zu dir trete nicht mit leisen Klagen:
"So war ich, und so ward ich dir vertraut,
Unsel'ger, warum hast du mich erschlagen!"
Drum fest, nur fest, nur keinen Schritt zur Seite,
Der Himmel hat die Pfade wohl bezeichnet,
Ein reines Aug' erkennt sie aus der Weite,
Und nur der Wille hat den Pfad verläugnet;
Uns allen ward der Compaß eingedrückt,
Noch keiner hat ihn aus der Brust gerissen,
Die Ehre nennt ihn, wer zur Erde blickt,
Und wer zum Himmel, nennt ihn das -- Gewissen.

O feſſle, feſſle ſeinen Quell im Fliehen,
Halt jeden Tropfen höher als Demanten;
Noch ſchläft die Stunde, doch ſie wacht dereinſt
Da deinem Willen ſich die Kraft entwunden,
Wo du verloren ſchwere Thränen weinſt
In die Charybdis deiner todten Stunden!

Vor Allem aber halt das Kind der Schmerzen,
Dein angefochtnes Selbſt, von Gott gegeben.
O ſauge nicht das Blut aus deinem Herzen,
Um einen Seelenbaſtard zu beleben;
Daß, wenn dir einſtens vor dem Golem graut,
Es zu dir trete nicht mit leiſen Klagen:
„So war ich, und ſo ward ich dir vertraut,
Unſel’ger, warum haſt du mich erſchlagen!“
Drum feſt, nur feſt, nur keinen Schritt zur Seite,
Der Himmel hat die Pfade wohl bezeichnet,
Ein reines Aug’ erkennt ſie aus der Weite,
Und nur der Wille hat den Pfad verläugnet;
Uns allen ward der Compaß eingedrückt,
Noch keiner hat ihn aus der Bruſt geriſſen,
Die Ehre nennt ihn, wer zur Erde blickt,
Und wer zum Himmel, nennt ihn das — Gewiſſen.

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[4/0020] O feſſle, feſſle ſeinen Quell im Fliehen, Halt jeden Tropfen höher als Demanten; Noch ſchläft die Stunde, doch ſie wacht dereinſt Da deinem Willen ſich die Kraft entwunden, Wo du verloren ſchwere Thränen weinſt In die Charybdis deiner todten Stunden! Vor Allem aber halt das Kind der Schmerzen, Dein angefochtnes Selbſt, von Gott gegeben. O ſauge nicht das Blut aus deinem Herzen, Um einen Seelenbaſtard zu beleben; Daß, wenn dir einſtens vor dem Golem graut, Es zu dir trete nicht mit leiſen Klagen: „So war ich, und ſo ward ich dir vertraut, Unſel’ger, warum haſt du mich erſchlagen!“ Drum feſt, nur feſt, nur keinen Schritt zur Seite, Der Himmel hat die Pfade wohl bezeichnet, Ein reines Aug’ erkennt ſie aus der Weite, Und nur der Wille hat den Pfad verläugnet; Uns allen ward der Compaß eingedrückt, Noch keiner hat ihn aus der Bruſt geriſſen, Die Ehre nennt ihn, wer zur Erde blickt, Und wer zum Himmel, nennt ihn das — Gewiſſen.

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/20>, abgerufen am 03.05.2024.