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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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Wohl giebt es Stunden, die so ganz verhaßt,
Daß, dem Gedächtniß eine Centnerlast,
Wir ihren Schatten abzuwälzen sorgen;
Doch selten schickt sie uns des Himmels Zorn,
Und meistens ist darin ein gift'ger Dorn,
Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen.
Drum, wer noch eines Blicks nach oben werth,
Der nehme, was an Lieben ihm bescheert,
Die stolze, wie die Stund' im schlichten Kleide
Der schlürfe jeden stillen Tropfen Thau,
Und spiegelt drin sich nicht des Aethers Blau,
So lispelt drüber wohl die fromme Weide.
Freu' dich an deines Säuglings Lächeln, freu'
Dich an des Jauchzens ungewissem Schrei,
Mit dem er streckt die lustbewegten Glieder;
Wär zehnmal stolzer auch, was dich durchweht,
Wenn er vor dir dereinst, ein Jüngling, steht,
Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder.
Freu' dich des Freundes, eh zum Greis er reift,
Erfahrung ihm die kühne Stirn gestreift,
Von seinem Scheitel Grabesblumen wehen;
Freu' dich des Greises, schau' ihm lange nach,
Wohl giebt es Stunden, die ſo ganz verhaßt,
Daß, dem Gedächtniß eine Centnerlaſt,
Wir ihren Schatten abzuwälzen ſorgen;
Doch ſelten ſchickt ſie uns des Himmels Zorn,
Und meiſtens iſt darin ein gift’ger Dorn,
Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen.
Drum, wer noch eines Blicks nach oben werth,
Der nehme, was an Lieben ihm beſcheert,
Die ſtolze, wie die Stund’ im ſchlichten Kleide
Der ſchlürfe jeden ſtillen Tropfen Thau,
Und ſpiegelt drin ſich nicht des Aethers Blau,
So lispelt drüber wohl die fromme Weide.
Freu’ dich an deines Säuglings Lächeln, freu’
Dich an des Jauchzens ungewiſſem Schrei,
Mit dem er ſtreckt die luſtbewegten Glieder;
Wär zehnmal ſtolzer auch, was dich durchweht,
Wenn er vor dir dereinſt, ein Jüngling, ſteht,
Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder.
Freu’ dich des Freundes, eh zum Greis er reift,
Erfahrung ihm die kühne Stirn geſtreift,
Von ſeinem Scheitel Grabesblumen wehen;
Freu’ dich des Greiſes, ſchau’ ihm lange nach,
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[6/0022] Wohl giebt es Stunden, die ſo ganz verhaßt, Daß, dem Gedächtniß eine Centnerlaſt, Wir ihren Schatten abzuwälzen ſorgen; Doch ſelten ſchickt ſie uns des Himmels Zorn, Und meiſtens iſt darin ein gift’ger Dorn, Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen. Drum, wer noch eines Blicks nach oben werth, Der nehme, was an Lieben ihm beſcheert, Die ſtolze, wie die Stund’ im ſchlichten Kleide Der ſchlürfe jeden ſtillen Tropfen Thau, Und ſpiegelt drin ſich nicht des Aethers Blau, So lispelt drüber wohl die fromme Weide. Freu’ dich an deines Säuglings Lächeln, freu’ Dich an des Jauchzens ungewiſſem Schrei, Mit dem er ſtreckt die luſtbewegten Glieder; Wär zehnmal ſtolzer auch, was dich durchweht, Wenn er vor dir dereinſt, ein Jüngling, ſteht, Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder. Freu’ dich des Freundes, eh zum Greis er reift, Erfahrung ihm die kühne Stirn geſtreift, Von ſeinem Scheitel Grabesblumen wehen; Freu’ dich des Greiſes, ſchau’ ihm lange nach,

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/22>, abgerufen am 30.04.2024.