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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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sondern nach der Treue, mit der jeder das ihm anvertraute Pfund
verwaltet.

In diesen Bereichen wieder giebt es Gesetze von ganz anderer
Macht und Unerbittlichkeit, als jene auf dem Wege der Verallgemei-
nerung gefundenen; hier gilt es Pflicht, Tugend, Wahl in den tragischen
Conflicten der sittlichen Mächte, in jenen Collisionen der Pflichten,
die nur durch die Kraft des freien Willens gelöst, in denen wohl die
Freiheit nur durch den Tod gerettet werden kann. Oder sind auch
diese Dinge damit beseitigt, dass "das Dogma vom freien Willen" für
eine Illusion erklärt wird?

Buckle freilich ist noch nicht so weit fortgeschritten, jenes Dogma
vom freien Willen darum zu verwerfen, weil dasselbe auf der petitio
principii beruhe, dass überhaupt Geist oder Seele sei; wie diejenigen
schliessen würden, welche alle diese Inponderabilien wie Verstand,
Gewissen, Willen u. s. w. für unwillkürliche Functionen des Gehirns,
für Ausschwitzungen ich weiss nicht welcher grauen oder weissen
Materie erklären. Und in der That müssten die grossen Geister, die
so lehren, wohl zuerst den Nachweis liefern, dass solche ihre Lehren
nicht eben auch nur Ausschwitzungen ihres Gehirns seien und zwar
krankhafte. Aber indem Buckle gegen das Vorhandensein des freieu
Willens argumentirt und zwar aus der "Ungewissheit über das Bestehen
des Selbstbewusstseins", muss er uns entweder gestatten, seine auf
solche Ungewissheit begründete Argumentation selbst für ungewiss zu
halten; oder er hätte uns beweisen müssen, dass er argumentiren könne
auch ohne das Bestehen des Selbstbewusstseins, d. h. des denkenden
Ichs, und dass er, wenn auch ohne Selbstbewusstsein, etwa als ein
Denkautomat das Werk habe zu Stande bringen können, mit dem er
die Geschichte zu dem Rang einer Wissenschaft hat erheben wollen,
-- nein, nicht wollen, denn das Wollen läugnet er mit der Freiheit
des Willens; sondern irgend wer müsste irgend welchen aufgehäuften
Stoff von Thatsachen in diese Denkmühle geworfen haben, und die-
selbe hätte denselben verarbeitet und das so Verarbeitete, sophisma,
kurma, trimma, paipalem' olon, wäre die neue Wissenschaft der Ge-
schichte.

Wenn trotz alledem Buckle den "Fortschritt" in der Geschichte
erkennt und unermüdlich ist ihn als das eigentliche Wesen in dem

sondern nach der Treue, mit der jeder das ihm anvertraute Pfund
verwaltet.

In diesen Bereichen wieder giebt es Gesetze von ganz anderer
Macht und Unerbittlichkeit, als jene auf dem Wege der Verallgemei-
nerung gefundenen; hier gilt es Pflicht, Tugend, Wahl in den tragischen
Conflicten der sittlichen Mächte, in jenen Collisionen der Pflichten,
die nur durch die Kraft des freien Willens gelöst, in denen wohl die
Freiheit nur durch den Tod gerettet werden kann. Oder sind auch
diese Dinge damit beseitigt, dass „das Dogma vom freien Willen“ für
eine Illusion erklärt wird?

Buckle freilich ist noch nicht so weit fortgeschritten, jenes Dogma
vom freien Willen darum zu verwerfen, weil dasselbe auf der petitio
principii beruhe, dass überhaupt Geist oder Seele sei; wie diejenigen
schliessen würden, welche alle diese Inponderabilien wie Verstand,
Gewissen, Willen u. s. w. für unwillkürliche Functionen des Gehirns,
für Ausschwitzungen ich weiss nicht welcher grauen oder weissen
Materie erklären. Und in der That müssten die grossen Geister, die
so lehren, wohl zuerst den Nachweis liefern, dass solche ihre Lehren
nicht eben auch nur Ausschwitzungen ihres Gehirns seien und zwar
krankhafte. Aber indem Buckle gegen das Vorhandensein des freieu
Willens argumentirt und zwar aus der „Ungewissheit über das Bestehen
des Selbstbewusstseins“, muss er uns entweder gestatten, seine auf
solche Ungewissheit begründete Argumentation selbst für ungewiss zu
halten; oder er hätte uns beweisen müssen, dass er argumentiren könne
auch ohne das Bestehen des Selbstbewusstseins, d. h. des denkenden
Ichs, und dass er, wenn auch ohne Selbstbewusstsein, etwa als ein
Denkautomat das Werk habe zu Stande bringen können, mit dem er
die Geschichte zu dem Rang einer Wissenschaft hat erheben wollen,
— nein, nicht wollen, denn das Wollen läugnet er mit der Freiheit
des Willens; sondern irgend wer müsste irgend welchen aufgehäuften
Stoff von Thatsachen in diese Denkmühle geworfen haben, und die-
selbe hätte denselben verarbeitet und das so Verarbeitete, σόϕισμα,
ϰύρμα, τρίμμα, παιπάλημ᾽ ὅλον, wäre die neue Wissenschaft der Ge-
schichte.

Wenn trotz alledem Buckle den „Fortschritt“ in der Geschichte
erkennt und unermüdlich ist ihn als das eigentliche Wesen in dem

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[59/0068] sondern nach der Treue, mit der jeder das ihm anvertraute Pfund verwaltet. In diesen Bereichen wieder giebt es Gesetze von ganz anderer Macht und Unerbittlichkeit, als jene auf dem Wege der Verallgemei- nerung gefundenen; hier gilt es Pflicht, Tugend, Wahl in den tragischen Conflicten der sittlichen Mächte, in jenen Collisionen der Pflichten, die nur durch die Kraft des freien Willens gelöst, in denen wohl die Freiheit nur durch den Tod gerettet werden kann. Oder sind auch diese Dinge damit beseitigt, dass „das Dogma vom freien Willen“ für eine Illusion erklärt wird? Buckle freilich ist noch nicht so weit fortgeschritten, jenes Dogma vom freien Willen darum zu verwerfen, weil dasselbe auf der petitio principii beruhe, dass überhaupt Geist oder Seele sei; wie diejenigen schliessen würden, welche alle diese Inponderabilien wie Verstand, Gewissen, Willen u. s. w. für unwillkürliche Functionen des Gehirns, für Ausschwitzungen ich weiss nicht welcher grauen oder weissen Materie erklären. Und in der That müssten die grossen Geister, die so lehren, wohl zuerst den Nachweis liefern, dass solche ihre Lehren nicht eben auch nur Ausschwitzungen ihres Gehirns seien und zwar krankhafte. Aber indem Buckle gegen das Vorhandensein des freieu Willens argumentirt und zwar aus der „Ungewissheit über das Bestehen des Selbstbewusstseins“, muss er uns entweder gestatten, seine auf solche Ungewissheit begründete Argumentation selbst für ungewiss zu halten; oder er hätte uns beweisen müssen, dass er argumentiren könne auch ohne das Bestehen des Selbstbewusstseins, d. h. des denkenden Ichs, und dass er, wenn auch ohne Selbstbewusstsein, etwa als ein Denkautomat das Werk habe zu Stande bringen können, mit dem er die Geschichte zu dem Rang einer Wissenschaft hat erheben wollen, — nein, nicht wollen, denn das Wollen läugnet er mit der Freiheit des Willens; sondern irgend wer müsste irgend welchen aufgehäuften Stoff von Thatsachen in diese Denkmühle geworfen haben, und die- selbe hätte denselben verarbeitet und das so Verarbeitete, σόϕισμα, ϰύρμα, τρίμμα, παιπάλημ᾽ ὅλον, wäre die neue Wissenschaft der Ge- schichte. Wenn trotz alledem Buckle den „Fortschritt“ in der Geschichte erkennt und unermüdlich ist ihn als das eigentliche Wesen in dem

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/68>, abgerufen am 01.05.2024.