Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

gerupfte Hahn des alten Philosophen sie exemplificirt und wie sie der
moderne Radicalismus zum Ausgangspunkt seiner Menschenrechte, der
moderne Materialismus zur Basis seiner "Sociologie" nimmt. Auch nicht
geboren werden, geschweige denn gepflegt, auferzogen, zum Menschen
werden könnte der Einzelne als solcher. Von dem Moment seiner Ge-
burt, seiner Empfängniss an steht er in den sittlichen Gemeinsamkeiten,
in dieser Familie, diesem Volk, Staat, Glauben oder Unglauben u. s. w.
und was er leiblich und geistig ist und hat, empfängt er zunächst aus
ihnen und durch sie.

Man sieht, die Skepsis dieser Betrachtungen wendet sich nicht
gegen die Realität der natürlichen Welt, noch weniger gegen die Ge-
wissheit der geschichtlichen, der sittlichen Gestaltungen. Uns ist die
Natur nicht ein "Gehirnphänomen," noch weniger die sittliche Welt
die fadenscheinige "Bejahung des Willens zum Leben."

Praktisch leben und handeln wir in dem zuversichtlichen Selbst-
gefühl
unsres Ich-seins, in der unmittelbaren Empfindung der
Totalität, innerhalb deren wir stehen. Es sind dies die beiden Mo-
mente, die sich aus der Art unsres Seins, das geistig und sinnlich
zugleich ist, ergeben.

Auf dieser unmittelbaren Gewissheit unsrer Selbstempfindung, unsrer
Weltempfindung, auf diesem Glauben, wie hoch oder niedrig der gefun-
dene Ausdruck für seinen letzten Grund, für sein höchstes Ziel sein
mag, ruht unser menschliches Sein und Thun. Dies Unmittelbare haben
wir; die "Wahrheit" suchen, erarbeiten wir; und mit unserm Suchen
und Arbeiten erwächst, vertieft sie sich uns. In dem Bedürfniss un-
seres Ich-seins oder Ich-werdens -- und es ist mit dem ersten gespro-
chenen Wort da und unhemmbar -- liegt der Drang, das Empfundene
und Geglaubte uns zum Bewusstsein zu bringen, es zu begreifen, es
gleichsam abzulösen von der Nabelschnur, mit der es an den Unmittel-
barkeiten haftet, es in die Kategorien unseres Denkens einzuordnen;
Kategorien, die sich zu der unmittelbar empfundenen Totalität der Wirk-
lichkeit und unseres Ich-seins in ihnen verhalten wie das Vieleck zum
Kreise: noch so vielseitig und kreisähnlich, bleibt es eckig und gerad-
linicht; Kreis und Vieleck hören nicht auf, gegen einander incommen-
surabel zu sein.

Es ist der irregeleitete Stolz des menschlichen Geistes, den Kreisen

gerupfte Hahn des alten Philosophen sie exemplificirt und wie sie der
moderne Radicalismus zum Ausgangspunkt seiner Menschenrechte, der
moderne Materialismus zur Basis seiner „Sociologie“ nimmt. Auch nicht
geboren werden, geschweige denn gepflegt, auferzogen, zum Menschen
werden könnte der Einzelne als solcher. Von dem Moment seiner Ge-
burt, seiner Empfängniss an steht er in den sittlichen Gemeinsamkeiten,
in dieser Familie, diesem Volk, Staat, Glauben oder Unglauben u. s. w.
und was er leiblich und geistig ist und hat, empfängt er zunächst aus
ihnen und durch sie.

Man sieht, die Skepsis dieser Betrachtungen wendet sich nicht
gegen die Realität der natürlichen Welt, noch weniger gegen die Ge-
wissheit der geschichtlichen, der sittlichen Gestaltungen. Uns ist die
Natur nicht ein „Gehirnphänomen,“ noch weniger die sittliche Welt
die fadenscheinige „Bejahung des Willens zum Leben.“

Praktisch leben und handeln wir in dem zuversichtlichen Selbst-
gefühl
unsres Ich-seins, in der unmittelbaren Empfindung der
Totalität, innerhalb deren wir stehen. Es sind dies die beiden Mo-
mente, die sich aus der Art unsres Seins, das geistig und sinnlich
zugleich ist, ergeben.

Auf dieser unmittelbaren Gewissheit unsrer Selbstempfindung, unsrer
Weltempfindung, auf diesem Glauben, wie hoch oder niedrig der gefun-
dene Ausdruck für seinen letzten Grund, für sein höchstes Ziel sein
mag, ruht unser menschliches Sein und Thun. Dies Unmittelbare haben
wir; die „Wahrheit“ suchen, erarbeiten wir; und mit unserm Suchen
und Arbeiten erwächst, vertieft sie sich uns. In dem Bedürfniss un-
seres Ich-seins oder Ich-werdens — und es ist mit dem ersten gespro-
chenen Wort da und unhemmbar — liegt der Drang, das Empfundene
und Geglaubte uns zum Bewusstsein zu bringen, es zu begreifen, es
gleichsam abzulösen von der Nabelschnur, mit der es an den Unmittel-
barkeiten haftet, es in die Kategorien unseres Denkens einzuordnen;
Kategorien, die sich zu der unmittelbar empfundenen Totalität der Wirk-
lichkeit und unseres Ich-seins in ihnen verhalten wie das Vieleck zum
Kreise: noch so vielseitig und kreisähnlich, bleibt es eckig und gerad-
linicht; Kreis und Vieleck hören nicht auf, gegen einander incommen-
surabel zu sein.

Es ist der irregeleitete Stolz des menschlichen Geistes, den Kreisen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0082" n="73"/>
gerupfte Hahn des alten Philosophen sie exemplificirt und wie sie der<lb/>
moderne Radicalismus zum Ausgangspunkt seiner Menschenrechte, der<lb/>
moderne Materialismus zur Basis seiner &#x201E;Sociologie&#x201C; nimmt. Auch nicht<lb/>
geboren werden, geschweige denn gepflegt, auferzogen, zum Menschen<lb/>
werden könnte der Einzelne als solcher. Von dem Moment seiner Ge-<lb/>
burt, seiner Empfängniss an steht er in den sittlichen Gemeinsamkeiten,<lb/>
in dieser Familie, diesem Volk, Staat, Glauben oder Unglauben u. s. w.<lb/>
und was er leiblich und geistig ist und hat, empfängt er zunächst aus<lb/>
ihnen und durch sie.</p><lb/>
          <p>Man sieht, die Skepsis dieser Betrachtungen wendet sich nicht<lb/>
gegen die Realität der natürlichen Welt, noch weniger gegen die Ge-<lb/>
wissheit der geschichtlichen, der sittlichen Gestaltungen. Uns ist die<lb/>
Natur nicht ein &#x201E;Gehirnphänomen,&#x201C; noch weniger die sittliche Welt<lb/>
die fadenscheinige &#x201E;Bejahung des Willens zum Leben.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Praktisch leben und handeln wir in dem zuversichtlichen <hi rendition="#g">Selbst-<lb/>
gefühl</hi> unsres Ich-seins, in der <hi rendition="#g">unmittelbaren Empfindung</hi> der<lb/>
Totalität, innerhalb deren wir stehen. Es sind dies die beiden Mo-<lb/>
mente, die sich aus der Art unsres Seins, das geistig und sinnlich<lb/>
zugleich ist, ergeben.</p><lb/>
          <p>Auf dieser unmittelbaren Gewissheit unsrer Selbstempfindung, unsrer<lb/>
Weltempfindung, auf diesem Glauben, wie hoch oder niedrig der gefun-<lb/>
dene Ausdruck für seinen letzten Grund, für sein höchstes Ziel sein<lb/>
mag, ruht unser menschliches Sein und Thun. Dies Unmittelbare haben<lb/>
wir; die &#x201E;Wahrheit&#x201C; suchen, erarbeiten wir; und mit unserm Suchen<lb/>
und Arbeiten erwächst, vertieft sie sich uns. In dem Bedürfniss un-<lb/>
seres Ich-seins oder Ich-werdens &#x2014; und es ist mit dem ersten gespro-<lb/>
chenen Wort da und unhemmbar &#x2014; liegt der Drang, das Empfundene<lb/>
und Geglaubte uns zum Bewusstsein zu bringen, es zu begreifen, es<lb/>
gleichsam abzulösen von der Nabelschnur, mit der es an den Unmittel-<lb/>
barkeiten haftet, es in die Kategorien unseres Denkens einzuordnen;<lb/>
Kategorien, die sich zu der unmittelbar empfundenen Totalität der Wirk-<lb/>
lichkeit und unseres Ich-seins in ihnen verhalten wie das Vieleck zum<lb/>
Kreise: noch so vielseitig und kreisähnlich, bleibt es eckig und gerad-<lb/>
linicht; Kreis und Vieleck hören nicht auf, gegen einander incommen-<lb/>
surabel zu sein.</p><lb/>
          <p>Es ist der irregeleitete Stolz des menschlichen Geistes, den Kreisen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0082] gerupfte Hahn des alten Philosophen sie exemplificirt und wie sie der moderne Radicalismus zum Ausgangspunkt seiner Menschenrechte, der moderne Materialismus zur Basis seiner „Sociologie“ nimmt. Auch nicht geboren werden, geschweige denn gepflegt, auferzogen, zum Menschen werden könnte der Einzelne als solcher. Von dem Moment seiner Ge- burt, seiner Empfängniss an steht er in den sittlichen Gemeinsamkeiten, in dieser Familie, diesem Volk, Staat, Glauben oder Unglauben u. s. w. und was er leiblich und geistig ist und hat, empfängt er zunächst aus ihnen und durch sie. Man sieht, die Skepsis dieser Betrachtungen wendet sich nicht gegen die Realität der natürlichen Welt, noch weniger gegen die Ge- wissheit der geschichtlichen, der sittlichen Gestaltungen. Uns ist die Natur nicht ein „Gehirnphänomen,“ noch weniger die sittliche Welt die fadenscheinige „Bejahung des Willens zum Leben.“ Praktisch leben und handeln wir in dem zuversichtlichen Selbst- gefühl unsres Ich-seins, in der unmittelbaren Empfindung der Totalität, innerhalb deren wir stehen. Es sind dies die beiden Mo- mente, die sich aus der Art unsres Seins, das geistig und sinnlich zugleich ist, ergeben. Auf dieser unmittelbaren Gewissheit unsrer Selbstempfindung, unsrer Weltempfindung, auf diesem Glauben, wie hoch oder niedrig der gefun- dene Ausdruck für seinen letzten Grund, für sein höchstes Ziel sein mag, ruht unser menschliches Sein und Thun. Dies Unmittelbare haben wir; die „Wahrheit“ suchen, erarbeiten wir; und mit unserm Suchen und Arbeiten erwächst, vertieft sie sich uns. In dem Bedürfniss un- seres Ich-seins oder Ich-werdens — und es ist mit dem ersten gespro- chenen Wort da und unhemmbar — liegt der Drang, das Empfundene und Geglaubte uns zum Bewusstsein zu bringen, es zu begreifen, es gleichsam abzulösen von der Nabelschnur, mit der es an den Unmittel- barkeiten haftet, es in die Kategorien unseres Denkens einzuordnen; Kategorien, die sich zu der unmittelbar empfundenen Totalität der Wirk- lichkeit und unseres Ich-seins in ihnen verhalten wie das Vieleck zum Kreise: noch so vielseitig und kreisähnlich, bleibt es eckig und gerad- linicht; Kreis und Vieleck hören nicht auf, gegen einander incommen- surabel zu sein. Es ist der irregeleitete Stolz des menschlichen Geistes, den Kreisen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/82
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/82>, abgerufen am 01.05.2024.