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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Gleich als ob in dem Bereich des geschichtlichen d. h. sittlichen
Lebens nur die Analogie der Beachtung würdig sei, nicht auch die
Anomalie, das Individuelle, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, der
Genius; als ob es nicht eine wissenschaftliche Aufgabe sei, für die Be-
wegungen und Wirkungen der menschlichen Freiheit, der persönlichen
Eigenartigkeit, wie gross oder klein man sie denn anschlagen mag, Wege
der Erforschung, der Verificirung, des Verständnisses zu suchen.

Denn allerdings haben wir von menschlichen Dingen, von jedem
Ausdruck und Abdruck menschlichen Tichtens und Trachtens, der uns
wahrnehmbar wird, und so weit er wahrnehmbar ist, unmittelbar und
in subjectiver Gewissheit ein Verständniss. Aber es gilt Methoden zu
finden, um für dies unmittelbare und subjective Auffassen -- zumal da
von Vergangenem uns nur noch Auffassungen Anderer oder Fragmente
dessen, was einst war, vorliegen -- objective Maasse und Controlen
zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen. Denn
nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objecti-
vität
sein zu können.

Methoden gilt es zu finden. Es bedarf deren andere für andere
Aufgaben, und oft zur Lösung Einer Aufgabe einer Combination von
mehreren derselben. So lange man glaubte, dass "die Geschichte" we-
sentlich die politische Geschichte sei, und dass des Historikers Aufgabe
sei, was von Revolutionen, Kriegen, Staatsactionen u. s. w. überliefert
ist, in neuer Auffassung und Zusammenstellung nachzuerzählen, mochte
es genügen, aus den besten, vielleicht auch den kritisch nachgewiesenen
besten Quellen das Material zu nehmen, das zu einem Buch, einem
Vortrag oder dergleichen verarbeitet werden sollte. Seit die Einsicht
erwacht ist, dass man auch die Künste, die Rechtsbildungen, jedes
menschliche Schaffen, alle Gestaltungen der sittlichen Welt historisch
erforschen kann, erforschen muss, um das, was ist, zu verstehen aus
dem, wie es geworden ist -- seitdem treten Forderungen sehr anderer
Art an unsere Wissenschaft heran. Sie hat Gestaltungen nach ihrem
historischen Zusammenhang zu erforschen, von denen vielleicht nur ein-
zelne Ueberreste vorhanden sind, Felder zu erschliessen, die bis dahin
nicht, am wenigsten von denen, die mitten in ihnen lebten, als histo-
risch beachtet und aufgefasst sind. Von allen Seiten drängen sich ihr
da Fragen auf, Fragen nach Dingen, die zum grossen Theil ungleich

Gleich als ob in dem Bereich des geschichtlichen d. h. sittlichen
Lebens nur die Analogie der Beachtung würdig sei, nicht auch die
Anomalie, das Individuelle, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, der
Genius; als ob es nicht eine wissenschaftliche Aufgabe sei, für die Be-
wegungen und Wirkungen der menschlichen Freiheit, der persönlichen
Eigenartigkeit, wie gross oder klein man sie denn anschlagen mag, Wege
der Erforschung, der Verificirung, des Verständnisses zu suchen.

Denn allerdings haben wir von menschlichen Dingen, von jedem
Ausdruck und Abdruck menschlichen Tichtens und Trachtens, der uns
wahrnehmbar wird, und so weit er wahrnehmbar ist, unmittelbar und
in subjectiver Gewissheit ein Verständniss. Aber es gilt Methoden zu
finden, um für dies unmittelbare und subjective Auffassen — zumal da
von Vergangenem uns nur noch Auffassungen Anderer oder Fragmente
dessen, was einst war, vorliegen — objective Maasse und Controlen
zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen. Denn
nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objecti-
vität
sein zu können.

Methoden gilt es zu finden. Es bedarf deren andere für andere
Aufgaben, und oft zur Lösung Einer Aufgabe einer Combination von
mehreren derselben. So lange man glaubte, dass „die Geschichte“ we-
sentlich die politische Geschichte sei, und dass des Historikers Aufgabe
sei, was von Revolutionen, Kriegen, Staatsactionen u. s. w. überliefert
ist, in neuer Auffassung und Zusammenstellung nachzuerzählen, mochte
es genügen, aus den besten, vielleicht auch den kritisch nachgewiesenen
besten Quellen das Material zu nehmen, das zu einem Buch, einem
Vortrag oder dergleichen verarbeitet werden sollte. Seit die Einsicht
erwacht ist, dass man auch die Künste, die Rechtsbildungen, jedes
menschliche Schaffen, alle Gestaltungen der sittlichen Welt historisch
erforschen kann, erforschen muss, um das, was ist, zu verstehen aus
dem, wie es geworden ist — seitdem treten Forderungen sehr anderer
Art an unsere Wissenschaft heran. Sie hat Gestaltungen nach ihrem
historischen Zusammenhang zu erforschen, von denen vielleicht nur ein-
zelne Ueberreste vorhanden sind, Felder zu erschliessen, die bis dahin
nicht, am wenigsten von denen, die mitten in ihnen lebten, als histo-
risch beachtet und aufgefasst sind. Von allen Seiten drängen sich ihr
da Fragen auf, Fragen nach Dingen, die zum grossen Theil ungleich

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[82/0091] Gleich als ob in dem Bereich des geschichtlichen d. h. sittlichen Lebens nur die Analogie der Beachtung würdig sei, nicht auch die Anomalie, das Individuelle, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, der Genius; als ob es nicht eine wissenschaftliche Aufgabe sei, für die Be- wegungen und Wirkungen der menschlichen Freiheit, der persönlichen Eigenartigkeit, wie gross oder klein man sie denn anschlagen mag, Wege der Erforschung, der Verificirung, des Verständnisses zu suchen. Denn allerdings haben wir von menschlichen Dingen, von jedem Ausdruck und Abdruck menschlichen Tichtens und Trachtens, der uns wahrnehmbar wird, und so weit er wahrnehmbar ist, unmittelbar und in subjectiver Gewissheit ein Verständniss. Aber es gilt Methoden zu finden, um für dies unmittelbare und subjective Auffassen — zumal da von Vergangenem uns nur noch Auffassungen Anderer oder Fragmente dessen, was einst war, vorliegen — objective Maasse und Controlen zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen. Denn nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objecti- vität sein zu können. Methoden gilt es zu finden. Es bedarf deren andere für andere Aufgaben, und oft zur Lösung Einer Aufgabe einer Combination von mehreren derselben. So lange man glaubte, dass „die Geschichte“ we- sentlich die politische Geschichte sei, und dass des Historikers Aufgabe sei, was von Revolutionen, Kriegen, Staatsactionen u. s. w. überliefert ist, in neuer Auffassung und Zusammenstellung nachzuerzählen, mochte es genügen, aus den besten, vielleicht auch den kritisch nachgewiesenen besten Quellen das Material zu nehmen, das zu einem Buch, einem Vortrag oder dergleichen verarbeitet werden sollte. Seit die Einsicht erwacht ist, dass man auch die Künste, die Rechtsbildungen, jedes menschliche Schaffen, alle Gestaltungen der sittlichen Welt historisch erforschen kann, erforschen muss, um das, was ist, zu verstehen aus dem, wie es geworden ist — seitdem treten Forderungen sehr anderer Art an unsere Wissenschaft heran. Sie hat Gestaltungen nach ihrem historischen Zusammenhang zu erforschen, von denen vielleicht nur ein- zelne Ueberreste vorhanden sind, Felder zu erschliessen, die bis dahin nicht, am wenigsten von denen, die mitten in ihnen lebten, als histo- risch beachtet und aufgefasst sind. Von allen Seiten drängen sich ihr da Fragen auf, Fragen nach Dingen, die zum grossen Theil ungleich

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/91>, abgerufen am 01.05.2024.