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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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Summe des Menschenglücks vermehren könne, wenn es frei-
willig geschieht, daß aber jeder Zwang in dieser Hinsicht
einen inneren Widerspruch in sich berge.*) Ebenso bemerkt
Mill vollkommen richtig, daß es das Maß der persönlichen
Genüsse doch zu sehr schmälern heißt, wenn man sie auf das
zur Existenzerhaltung Erforderliche herabsetzt. Doch fcheint
uns auch Mill in seiner Beschränkung der persönlichen Ge-
nüsse viel zu weit zu gehen, wenn er sagt**): "Die Versitt-
lichung der persönlichen Genüsse besteht für uns nicht darin,
daß man sie auf das möglichst kleine Maß beschränkt, son-
dern in der Ausbildung des Wunsches, sie mit allen Anderen
zu theilen und darin, daß man jeden Genuß ver-
schmäht
, der sich nicht in dieser Weise theilen läßt." Welch'
ein Gedanke! Dann müßten die auserlesenen Naturen die
ihnen allein zugänglichen Genüsse verschmähen, ihre hohen
Stimmungen und sublimen Gedanken unterdrücken, weil sie
nicht von der Allgemeinheit können mitgenossen werden. Sehr
vortheilhaft unterscheidet sich dagegen folgende Stelle bei
Mill von Comte's blinder Verherrlichung des Altruismus***):
"Eine auf große und weise Anschauungen des allgemeinen
Besten begründete Sittlichkeit, welche weder den Einzelnen
der Gesammtheit noch die Gesammtheit dem Einzelnen opsert,
sondern sowohl der Pflicht auf der einen, als der Freiheit
und Spontaneität auf der anderen Seite ihr eigenes Gebiet
anweist, würde ihre Macht in höheren Naturen aus Sym-

*) p. 104. "Von (wohlthätigen) Handlungen kann es offenbar
nie genug geben, so lange die Betreffenden durch keinen äußern Druck
dazu genöthigt werden. Allein eben diese Freiwilligkeit ist eine uner-
läßliche Bedingung. Denn das durch die Selbstaufopferung jedes
Einzelnen herbeigeführte Glück Aller wird zu einem inneren Wider-
spruch, sobald die Selbstverleugnung wirklich als ein Opfer empfun-
den wird."
**) August Comte und der Positivismus, p. 103.
***) p. 92.

Summe des Menſchenglücks vermehren könne, wenn es frei-
willig geſchieht, daß aber jeder Zwang in dieſer Hinſicht
einen inneren Widerſpruch in ſich berge.*) Ebenſo bemerkt
Mill vollkommen richtig, daß es das Maß der perſönlichen
Genüſſe doch zu ſehr ſchmälern heißt, wenn man ſie auf das
zur Exiſtenzerhaltung Erforderliche herabſetzt. Doch fcheint
uns auch Mill in ſeiner Beſchränkung der perſönlichen Ge-
nüſſe viel zu weit zu gehen, wenn er ſagt**): „Die Verſitt-
lichung der perſönlichen Genüſſe beſteht für uns nicht darin,
daß man ſie auf das möglichſt kleine Maß beſchränkt, ſon-
dern in der Ausbildung des Wunſches, ſie mit allen Anderen
zu theilen und darin, daß man jeden Genuß ver-
ſchmäht
, der ſich nicht in dieſer Weiſe theilen läßt.“ Welch’
ein Gedanke! Dann müßten die auserleſenen Naturen die
ihnen allein zugänglichen Genüſſe verſchmähen, ihre hohen
Stimmungen und ſublimen Gedanken unterdrücken, weil ſie
nicht von der Allgemeinheit können mitgenoſſen werden. Sehr
vortheilhaft unterſcheidet ſich dagegen folgende Stelle bei
Mill von Comte’s blinder Verherrlichung des Altruismus***):
„Eine auf große und weiſe Anſchauungen des allgemeinen
Beſten begründete Sittlichkeit, welche weder den Einzelnen
der Geſammtheit noch die Geſammtheit dem Einzelnen opſert,
ſondern ſowohl der Pflicht auf der einen, als der Freiheit
und Spontaneität auf der anderen Seite ihr eigenes Gebiet
anweiſt, würde ihre Macht in höheren Naturen aus Sym-

*) p. 104. „Von (wohlthätigen) Handlungen kann es offenbar
nie genug geben, ſo lange die Betreffenden durch keinen äußern Druck
dazu genöthigt werden. Allein eben dieſe Freiwilligkeit iſt eine uner-
läßliche Bedingung. Denn das durch die Selbſtaufopferung jedes
Einzelnen herbeigeführte Glück Aller wird zu einem inneren Wider-
ſpruch, ſobald die Selbſtverleugnung wirklich als ein Opfer empfun-
den wird.“
**) Auguſt Comte und der Poſitivismus, p. 103.
***) p. 92.
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[29/0038] Summe des Menſchenglücks vermehren könne, wenn es frei- willig geſchieht, daß aber jeder Zwang in dieſer Hinſicht einen inneren Widerſpruch in ſich berge. *) Ebenſo bemerkt Mill vollkommen richtig, daß es das Maß der perſönlichen Genüſſe doch zu ſehr ſchmälern heißt, wenn man ſie auf das zur Exiſtenzerhaltung Erforderliche herabſetzt. Doch fcheint uns auch Mill in ſeiner Beſchränkung der perſönlichen Ge- nüſſe viel zu weit zu gehen, wenn er ſagt **): „Die Verſitt- lichung der perſönlichen Genüſſe beſteht für uns nicht darin, daß man ſie auf das möglichſt kleine Maß beſchränkt, ſon- dern in der Ausbildung des Wunſches, ſie mit allen Anderen zu theilen und darin, daß man jeden Genuß ver- ſchmäht, der ſich nicht in dieſer Weiſe theilen läßt.“ Welch’ ein Gedanke! Dann müßten die auserleſenen Naturen die ihnen allein zugänglichen Genüſſe verſchmähen, ihre hohen Stimmungen und ſublimen Gedanken unterdrücken, weil ſie nicht von der Allgemeinheit können mitgenoſſen werden. Sehr vortheilhaft unterſcheidet ſich dagegen folgende Stelle bei Mill von Comte’s blinder Verherrlichung des Altruismus ***): „Eine auf große und weiſe Anſchauungen des allgemeinen Beſten begründete Sittlichkeit, welche weder den Einzelnen der Geſammtheit noch die Geſammtheit dem Einzelnen opſert, ſondern ſowohl der Pflicht auf der einen, als der Freiheit und Spontaneität auf der anderen Seite ihr eigenes Gebiet anweiſt, würde ihre Macht in höheren Naturen aus Sym- *) p. 104. „Von (wohlthätigen) Handlungen kann es offenbar nie genug geben, ſo lange die Betreffenden durch keinen äußern Druck dazu genöthigt werden. Allein eben dieſe Freiwilligkeit iſt eine uner- läßliche Bedingung. Denn das durch die Selbſtaufopferung jedes Einzelnen herbeigeführte Glück Aller wird zu einem inneren Wider- ſpruch, ſobald die Selbſtverleugnung wirklich als ein Opfer empfun- den wird.“ **) Auguſt Comte und der Poſitivismus, p. 103. ***) p. 92.

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/38>, abgerufen am 24.04.2024.