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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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a gezeigt, das heisst, die Reihe c, d ... läuft ihrer Ordnung
gemäss allmählich ab. Hingegen b und a erfahren einen
ganz anderen Einfluss;
mit ihren verschiedenen Resten war
das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie
mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um
den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzu-
rufen, also um einen Theil von b und einen kleineren Theil
von a ins Bewusstsein zu bringen. So geschieht es, wenn
wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe
erinnert werden; das Vorhergehende stellt sich auf einmal,
in abgestufter Klarheit dar;
das Nachfolgende hingegen läuft
in unsern Gedanken ab
, wie die Reihenfolge es mit sich
bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals ent-
steht, ohne geflissentliches Bemühen, ein Anagramm aus einem
wohlaufgefassten Worte*."

Nach dieser Auffassung also sind die associativen Fäden,
welche eine innerlich behaltene Reihe zusammenhalten, nicht
nur einfach zwischen Glied und Folgeglied gesponnen, son-
dern es bestehen solche Fäden zwischen jedem einzelnen

* Herbart, Lehrb. z. Psychol. § 29 (W.W.1 V S. 26 f.). Eine ähnliche
"ansprechende" Ansicht, wie er sie nennt, entwickelt Lotze, Metaphysik
(1879) S. 527, mit der Modifikation, dass er die verschiedene Stärke der
Vorstellungen, die er verwarf, zu eliminieren sucht. Er hängt freilich
nicht sehr daran. Den eigentlichen Grund der getreuen Reproduktion
von Reihen sieht er, übereinstimmend mit der oben zuerst besprochenen
Ansicht, darin, dass sich die Association nur von Glied zu Folgeglied
knüpft. Dementsprechend lehrt er in den Vorlesungsdiktaten über Psycho-
logie (S. 22): "Jede zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt
sein mag, associieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittel-
bar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden.
Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit
zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach,
aber nicht ausser der Reihe wiederholen." Mit den "weiteren Künsten"
ist doch wohl der Herbartsche Versuch einer Zurechtlegung gemeint.

a gezeigt, das heisst, die Reihe c, d ... läuft ihrer Ordnung
gemäss allmählich ab. Hingegen b und a erfahren einen
ganz anderen Einfluſs;
mit ihren verschiedenen Resten war
das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie
mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um
den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzu-
rufen, also um einen Theil von b und einen kleineren Theil
von a ins Bewusstsein zu bringen. So geschieht es, wenn
wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe
erinnert werden; das Vorhergehende stellt sich auf einmal,
in abgestufter Klarheit dar;
das Nachfolgende hingegen läuft
in unsern Gedanken ab
, wie die Reihenfolge es mit sich
bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals ent-
steht, ohne geflissentliches Bemühen, ein Anagramm aus einem
wohlaufgefassten Worte*.“

Nach dieser Auffassung also sind die associativen Fäden,
welche eine innerlich behaltene Reihe zusammenhalten, nicht
nur einfach zwischen Glied und Folgeglied gesponnen, son-
dern es bestehen solche Fäden zwischen jedem einzelnen

* Herbart, Lehrb. z. Psychol. § 29 (W.W.1 V S. 26 f.). Eine ähnliche
„ansprechende“ Ansicht, wie er sie nennt, entwickelt Lotze, Metaphysik
(1879) S. 527, mit der Modifikation, daſs er die verschiedene Stärke der
Vorstellungen, die er verwarf, zu eliminieren sucht. Er hängt freilich
nicht sehr daran. Den eigentlichen Grund der getreuen Reproduktion
von Reihen sieht er, übereinstimmend mit der oben zuerst besprochenen
Ansicht, darin, daſs sich die Association nur von Glied zu Folgeglied
knüpft. Dementsprechend lehrt er in den Vorlesungsdiktaten über Psycho-
logie (S. 22): „Jede zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt
sein mag, associieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittel-
bar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden.
Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit
zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach,
aber nicht ausser der Reihe wiederholen.“ Mit den „weiteren Künsten“
ist doch wohl der Herbartsche Versuch einer Zurechtlegung gemeint.
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[128/0144] a gezeigt, das heisst, die Reihe c, d ... läuft ihrer Ordnung gemäss allmählich ab. Hingegen b und a erfahren einen ganz anderen Einfluſs; mit ihren verschiedenen Resten war das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzu- rufen, also um einen Theil von b und einen kleineren Theil von a ins Bewusstsein zu bringen. So geschieht es, wenn wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe erinnert werden; das Vorhergehende stellt sich auf einmal, in abgestufter Klarheit dar; das Nachfolgende hingegen läuft in unsern Gedanken ab, wie die Reihenfolge es mit sich bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals ent- steht, ohne geflissentliches Bemühen, ein Anagramm aus einem wohlaufgefassten Worte *.“ Nach dieser Auffassung also sind die associativen Fäden, welche eine innerlich behaltene Reihe zusammenhalten, nicht nur einfach zwischen Glied und Folgeglied gesponnen, son- dern es bestehen solche Fäden zwischen jedem einzelnen * Herbart, Lehrb. z. Psychol. § 29 (W.W.1 V S. 26 f.). Eine ähnliche „ansprechende“ Ansicht, wie er sie nennt, entwickelt Lotze, Metaphysik (1879) S. 527, mit der Modifikation, daſs er die verschiedene Stärke der Vorstellungen, die er verwarf, zu eliminieren sucht. Er hängt freilich nicht sehr daran. Den eigentlichen Grund der getreuen Reproduktion von Reihen sieht er, übereinstimmend mit der oben zuerst besprochenen Ansicht, darin, daſs sich die Association nur von Glied zu Folgeglied knüpft. Dementsprechend lehrt er in den Vorlesungsdiktaten über Psycho- logie (S. 22): „Jede zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt sein mag, associieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittel- bar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden. Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach, aber nicht ausser der Reihe wiederholen.“ Mit den „weiteren Künsten“ ist doch wohl der Herbartsche Versuch einer Zurechtlegung gemeint.

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/144>, abgerufen am 29.04.2024.