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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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uns niemand nach, warum? weil es die Anderen nicht
erlebt haben."

"Auch braucht man nicht zu fürchten, daß das Be¬
sondere keinen Anklang finde. Jeder Character, so eigen¬
thümlich er seyn möge, und jedes Darzustellende, vom
Stein herauf bis zum Menschen, hat Allgemeinheit;
denn alles wiederholt sich, und es giebt kein Ding in
der Welt, das nur ein Mal da wäre."

"Auf dieser Stufe der individuellen Darstellung,
fuhr Goethe fort, beginnet dann zugleich dasjenige, was
man Composition nennet."

Dieses war mir nicht sogleich klar, doch enthielt ich
mich danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er
damit die künstlerische Verschmelzung des Idealen mit
dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns
befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch
vielleicht meint er auch etwas anderes. Goethe fuhr
fort:

"Und dann setzen Sie unter jedes Gedicht immer
das Datum wann Sie es gemacht haben." Ich sah
ihn fragend an, warum das so wichtig? "Es gilt dann,
fügte er hinzu, zugleich als Tagebuch Ihrer Zustände.
Und das ist nichts Geringes. Ich habe es seit Jahren
gethan und sehe ein, was das heißen will."

Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen
und ich verließ Goethe. "Sie gehen nun nach Finn¬
land!" rief er mir scherzend nach. Es ward nämlich

uns niemand nach, warum? weil es die Anderen nicht
erlebt haben.“

„Auch braucht man nicht zu fuͤrchten, daß das Be¬
ſondere keinen Anklang finde. Jeder Character, ſo eigen¬
thuͤmlich er ſeyn moͤge, und jedes Darzuſtellende, vom
Stein herauf bis zum Menſchen, hat Allgemeinheit;
denn alles wiederholt ſich, und es giebt kein Ding in
der Welt, das nur ein Mal da waͤre.“

„Auf dieſer Stufe der individuellen Darſtellung,
fuhr Goethe fort, beginnet dann zugleich dasjenige, was
man Compoſition nennet.“

Dieſes war mir nicht ſogleich klar, doch enthielt ich
mich danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er
damit die kuͤnſtleriſche Verſchmelzung des Idealen mit
dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns
befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch
vielleicht meint er auch etwas anderes. Goethe fuhr
fort:

„Und dann ſetzen Sie unter jedes Gedicht immer
das Datum wann Sie es gemacht haben.“ Ich ſah
ihn fragend an, warum das ſo wichtig? „Es gilt dann,
fuͤgte er hinzu, zugleich als Tagebuch Ihrer Zuſtaͤnde.
Und das iſt nichts Geringes. Ich habe es ſeit Jahren
gethan und ſehe ein, was das heißen will.“

Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen
und ich verließ Goethe. „Sie gehen nun nach Finn¬
land!“ rief er mir ſcherzend nach. Es ward naͤmlich

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[75/0095] uns niemand nach, warum? weil es die Anderen nicht erlebt haben.“ „Auch braucht man nicht zu fuͤrchten, daß das Be¬ ſondere keinen Anklang finde. Jeder Character, ſo eigen¬ thuͤmlich er ſeyn moͤge, und jedes Darzuſtellende, vom Stein herauf bis zum Menſchen, hat Allgemeinheit; denn alles wiederholt ſich, und es giebt kein Ding in der Welt, das nur ein Mal da waͤre.“ „Auf dieſer Stufe der individuellen Darſtellung, fuhr Goethe fort, beginnet dann zugleich dasjenige, was man Compoſition nennet.“ Dieſes war mir nicht ſogleich klar, doch enthielt ich mich danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er damit die kuͤnſtleriſche Verſchmelzung des Idealen mit dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch vielleicht meint er auch etwas anderes. Goethe fuhr fort: „Und dann ſetzen Sie unter jedes Gedicht immer das Datum wann Sie es gemacht haben.“ Ich ſah ihn fragend an, warum das ſo wichtig? „Es gilt dann, fuͤgte er hinzu, zugleich als Tagebuch Ihrer Zuſtaͤnde. Und das iſt nichts Geringes. Ich habe es ſeit Jahren gethan und ſehe ein, was das heißen will.“ Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen und ich verließ Goethe. „Sie gehen nun nach Finn¬ land!“ rief er mir ſcherzend nach. Es ward naͤmlich

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/95>, abgerufen am 29.04.2024.