Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

damit anzufangen haben. Man will immer wieder hö¬
ren und wieder sehen, was man schon einmal gehört
und gesehen hat; und wie man gewohnt ist, die Blume
Poesie in durchaus poetischen Gefilden anzutreffen, so
ist man in diesem Falle erstaunt, sie aus einem durch¬
aus realen Boden hervorwachsen zu sehen. In der poe¬
tischen Region läßt man sich alles gefallen, und ist kein
Wunder zu unerhört, als daß man es nicht glauben
möchte; hier aber, in diesem hellen Lichte des wirklichen
Tages, macht uns das Geringste stutzen, was nur ein
Weniges vom gewöhnlichen Gange der Dinge abweicht;
und von tausend Wundern umgeben, an die wir gewohnt
sind, ist uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt
neu war. Auch fällt es dem Menschen durchaus nicht
schwer, an Wunder einer früheren Zeit zu glauben;
allein einem Wunder, das heute geschieht, eine Art von
Realität zu geben, und es, neben dem sichtbar Wirkli¬
chen, als eine höhere Wirklichkeit zu verehren, dieses
scheint nicht mehr im Menschen zu liegen, oder wenn
es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬
den. Unser Jahrhundert wird daher auch immer prosai¬
scher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬
kehrs und Glaubens an das Übersinnliche, alle Poesie
auch immer mehr verschwinden.

Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im
Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung,
daß der Mensch von höheren Wesen nicht ganz ver¬

damit anzufangen haben. Man will immer wieder hoͤ¬
ren und wieder ſehen, was man ſchon einmal gehoͤrt
und geſehen hat; und wie man gewohnt iſt, die Blume
Poeſie in durchaus poetiſchen Gefilden anzutreffen, ſo
iſt man in dieſem Falle erſtaunt, ſie aus einem durch¬
aus realen Boden hervorwachſen zu ſehen. In der poe¬
tiſchen Region laͤßt man ſich alles gefallen, und iſt kein
Wunder zu unerhoͤrt, als daß man es nicht glauben
moͤchte; hier aber, in dieſem hellen Lichte des wirklichen
Tages, macht uns das Geringſte ſtutzen, was nur ein
Weniges vom gewoͤhnlichen Gange der Dinge abweicht;
und von tauſend Wundern umgeben, an die wir gewohnt
ſind, iſt uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt
neu war. Auch faͤllt es dem Menſchen durchaus nicht
ſchwer, an Wunder einer fruͤheren Zeit zu glauben;
allein einem Wunder, das heute geſchieht, eine Art von
Realitaͤt zu geben, und es, neben dem ſichtbar Wirkli¬
chen, als eine hoͤhere Wirklichkeit zu verehren, dieſes
ſcheint nicht mehr im Menſchen zu liegen, oder wenn
es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬
den. Unſer Jahrhundert wird daher auch immer proſai¬
ſcher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬
kehrs und Glaubens an das Überſinnliche, alle Poeſie
auch immer mehr verſchwinden.

Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im
Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung,
daß der Menſch von hoͤheren Weſen nicht ganz ver¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <div n="5">
            <p><pb facs="#f0322" n="312"/>
damit anzufangen haben. Man will immer wieder ho&#x0364;¬<lb/>
ren und wieder &#x017F;ehen, was man &#x017F;chon einmal geho&#x0364;rt<lb/>
und ge&#x017F;ehen hat; und wie man gewohnt i&#x017F;t, die Blume<lb/>
Poe&#x017F;ie in durchaus poeti&#x017F;chen Gefilden anzutreffen, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t man in die&#x017F;em Falle er&#x017F;taunt, &#x017F;ie aus einem durch¬<lb/>
aus realen Boden hervorwach&#x017F;en zu &#x017F;ehen. In der poe¬<lb/>
ti&#x017F;chen Region la&#x0364;ßt man &#x017F;ich alles gefallen, und i&#x017F;t kein<lb/>
Wunder zu unerho&#x0364;rt, als daß man es nicht glauben<lb/>
mo&#x0364;chte; hier aber, in die&#x017F;em hellen Lichte des wirklichen<lb/>
Tages, macht uns das Gering&#x017F;te &#x017F;tutzen, was nur ein<lb/>
Weniges vom gewo&#x0364;hnlichen Gange der Dinge abweicht;<lb/>
und von tau&#x017F;end Wundern umgeben, an die wir gewohnt<lb/>
&#x017F;ind, i&#x017F;t uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt<lb/>
neu war. Auch fa&#x0364;llt es dem Men&#x017F;chen durchaus nicht<lb/>
&#x017F;chwer, an Wunder einer fru&#x0364;heren Zeit zu glauben;<lb/>
allein einem Wunder, das heute ge&#x017F;chieht, eine Art von<lb/>
Realita&#x0364;t zu geben, und es, neben dem &#x017F;ichtbar Wirkli¬<lb/>
chen, als eine ho&#x0364;here Wirklichkeit zu verehren, die&#x017F;es<lb/>
&#x017F;cheint nicht mehr im Men&#x017F;chen zu liegen, oder wenn<lb/>
es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬<lb/>
den. Un&#x017F;er Jahrhundert wird daher auch immer pro&#x017F;ai¬<lb/>
&#x017F;cher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬<lb/>
kehrs und Glaubens an das Über&#x017F;innliche, alle Poe&#x017F;ie<lb/>
auch immer mehr ver&#x017F;chwinden.</p><lb/>
            <p>Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im<lb/>
Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung,<lb/>
daß der Men&#x017F;ch von ho&#x0364;heren We&#x017F;en nicht ganz ver¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0322] damit anzufangen haben. Man will immer wieder hoͤ¬ ren und wieder ſehen, was man ſchon einmal gehoͤrt und geſehen hat; und wie man gewohnt iſt, die Blume Poeſie in durchaus poetiſchen Gefilden anzutreffen, ſo iſt man in dieſem Falle erſtaunt, ſie aus einem durch¬ aus realen Boden hervorwachſen zu ſehen. In der poe¬ tiſchen Region laͤßt man ſich alles gefallen, und iſt kein Wunder zu unerhoͤrt, als daß man es nicht glauben moͤchte; hier aber, in dieſem hellen Lichte des wirklichen Tages, macht uns das Geringſte ſtutzen, was nur ein Weniges vom gewoͤhnlichen Gange der Dinge abweicht; und von tauſend Wundern umgeben, an die wir gewohnt ſind, iſt uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt neu war. Auch faͤllt es dem Menſchen durchaus nicht ſchwer, an Wunder einer fruͤheren Zeit zu glauben; allein einem Wunder, das heute geſchieht, eine Art von Realitaͤt zu geben, und es, neben dem ſichtbar Wirkli¬ chen, als eine hoͤhere Wirklichkeit zu verehren, dieſes ſcheint nicht mehr im Menſchen zu liegen, oder wenn es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬ den. Unſer Jahrhundert wird daher auch immer proſai¬ ſcher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬ kehrs und Glaubens an das Überſinnliche, alle Poeſie auch immer mehr verſchwinden. Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung, daß der Menſch von hoͤheren Weſen nicht ganz ver¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/322
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/322>, abgerufen am 03.05.2024.